5.3.1 Definition, Entstehungsprozess und Verbreitung der Tailings in Chile
Je nachdem welches Metall oder welche Mineralien im Bergbau abgebaut werden, stellt sich der Extraktions- und Produktionsprozess sowie die dafür notwendigen Vorprodukte und Rohmaterialien unterschiedlich dar. Im Allgemeinen benötigt der Sektor aber vorwiegend große Mengen an Wasser und Energie, um die Extraktion und Weiterverarbeitung der Erze zu bewerkstelligen. Im Kupferabbau, um den es in dieser Arbeit hauptsächlich geht,
82 werden die Erze und Gesteine zunächst zerkleinert und gemahlen (auf 0.18 Millimeter), um dann durch den Flotationsprozess in großen Wasserbecken und durch das Zugeben unterschiedlicher Chemikalien das Kupfer (oder anderes Metall) vom restlichen Material zu trennen. In einem weiteren Produktionsschritt wird das Kupfer dann auf 1200 Grad erhitzt und geschmolzen und anschließend werden die restlichen Rückstände (Schlacke) von dem übrig gebliebenen molekularen Sauerstoff getrennt (Verhüttung). Anschließend folgt die elektronische Verfeinerung (Elektrorefinación) und die Auswaschung.
83 Besonders im Flotations- und Verhüttungsprozess entstehen große Mengen an industriellen Abfällen. Den Großteil dieser Abfälle stellen die Tailings dar, wie die Rückstände des Flotationsprozessen bezeichnet werden. Aufgrund ihrer hohen Konzentration an giftigen Chemikalien und Schwermetallen
84 müssen diese Tailings in der Regel aufwendig in großen Becken oder Dämmen unter ständiger Wasserzufuhr gelagert werden. In manchen Fällen gibt es auch trockene Lagerformen.
Frühere Tailings wurden lange vor den ersten Umweltregulierungen offen und ungesichert in der Natur entsorgt. Durch ihre farbliche Zusammensetzung und sandige Textur ist es heutzutage teilweise unmöglich, diese von der restlichen Umgebung zu unterscheiden.
85 Dies erleichtert ihre Ausbreitung auf Gewässer, Böden, Luft und dadurch Körper und ganze Ökosysteme. Besonders beunruhigend sind dabei einerseits die hohen Konzentrationen toxischer Komponenten, wie etwa Arsen, Quecksilber, Blei oder Zyanid, die sich darin befinden und jegliche internationalen Richtwerte weit überschreiten (CENMA 2011; Eberle 1998a, 1998b; Muñoz & Silva 2001; Cortés et al. 2015; Cortéz & Sila 2000). Die in den Tailings enthaltenen Komponenten führen oftmals zu irreversiblen Schäden für die Gesundheit der Bevölkerung sowie in lokalen Ökosystemen – insbesondere dann, wenn sie natürliche Kreisläufe vollständig unterbrechen. Während es die industrielle Bergbauproduktion teilweise geschafft hat, die Konzentrationen an Chemikalien etwas zu reduzieren, produziert sie gleichzeitig steigende Mengen an Tailings.
86 Entlang des chilenischen Nordens entstehen große künstliche Berge und gigantische Auffangbecken, um die Tailings zu deponieren. Alle 30 Stunden entstehen neue 2.572.263 Tonnen an Tailing-Material, was täglich einem neuen Cerro Santa Lucía, dem Hausberg der chilenischen Hauptstadt Santiago, entspricht.
87 Große Landstriche werden dabei komplett verändert. Der enorme Eingriff in die Ökosysteme hat auch damit zu tun, dass es sich beim gesamten abgebauten und verarbeiteten Material in der Kupferproduktion nur zu knapp einem Prozent um Metall handelt (Sernageomin 2015). Die restlichen 99 Prozent werden in Form von Tailings zurückgelassen, die – wie beschrieben – mit unterschiedlichen Chemikalien und Schwermetallen belastet sind. Neben den 5,8 Millionen Tonnen Kupfer werden so jährlich etwa 700 bis 800 Millionen Tonnen größtenteils giftige Industrieabfälle und Rückstände produziert – 537 Millionen Tonnen davon sind Tailings (Sernageomin 2015, 2018). Heute werden in Chile 758 Tailings gelistet, wobei viele der historisch produzierten Tailings nicht mehr auffindbar sind und dennoch ein großes Risiko für die Bevölkerung darstellen können. Chile ist nach China und den USA das Land mit den größten Zahlen an Tailingdeponien weltweit. Aufgrund einer bis 2012 fehlenden und immer noch lückenhaften Regulierung (siehe unten) sind die bestehenden Tailings in Chile größtenteils ungesichert und breiten sich langsam auf die umliegenden Böden, Gewässer und schließlich das Meer aus. Boden- und Wasserqualitätsmessungen in den nördlichen Gebieten zeigen eine schwere Überlastung der Gewässer durch gesundheitsschädliche Schwermetalle und chemische Elemente (unter anderem Arsen, Blei und Quecksilber) (Martínez et al. 2018, S. 115; Eberle 1998a, 1998b; CENMA 2011).
Die stetig sinkende Reinheit der Vorkommen hat zur Folge, dass für die gleiche Menge an Kupfer viel größere Mengen an Erzen extrahiert und bearbeitet werden müssen, was wiederum zu einer stetigen Zunahme an Tailings führt. Zusammen mit der geplanten Steigerung der Kupferproduktion wird laut einer Forschung von Fernando Campos und Iván Ojeda der Universidad de Chile
88 für 2026 eine Tailingsproduktion von jährlich 915 Millionen Tonnen prognostiziert, was eine Steigerung um 74 Prozent zum Jahr 2014 darstellt (damals waren es 525 Millionen Tonnen). Neben der chemischen Belastung ist auch die physische Stabilität dieser großen Mengen an Tailings ein Problem.
Immer wieder kommt es zum Einstürzen von Dämmen und Auffangbecken von Tailings. Als 2019 in Brasilien der Tailingdamm des Bergbaukonzerns Vale einstürzte, kamen 270 Menschen ums Leben. Das Ereignis ging medial um die Welt. 75 Prozent der weltweit durch den Bergbau verursachten (Umwelt)Katastrophen sind auf das Versagen von Tailingdeponien zurückzuführen, sei es durch das Austreten giftiger Schadstoffe oder durch das Versagen ihrer physischen Stabilität (Mining, Minerals and Sustainable Development Project 2002). Iván Ojeda, Forscher des Laboratorio de Sociología Territorial (LST) der Universidad de Chile, erklärt dazu in einem Interview in der Tageszeitung El Mostrador
89: „Es handelt sich dabei um ein Problem, das sich zeitlich ausdehnt und hoch komplex ist. Das Problem besteht seit den Anfängen des Bergbaus in Chile, was lange her ist und sich gleichzeitig auf die Zukunft ausdehnt. Deswegen ist es ein so wichtiges und großes Problem“.
Um die chemische Stabilität der Tailingdeponien sowie die physische Stabilität der Auffangbecken und -dämme langfristig zu gewährleisten, gibt es bisher keine verlässliche Form der Lagerung bzw. sicheren Schließung. Das gilt insbesondere in solchen Fällen, in denen ein Bergwerk stillgelegt wird. Obwohl seit 2012 eine „sichere Schließung“ der Bergwerke und all ihrer Anlagen sowie Deponien rechtlich vorgegeben ist, sei dies in der Praxis kaum möglich, erzählt Werner Zimmermann im Interview (PW03). Zimmermann ist ehemaliger Projektleiter der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) im Bereich der Technischen Zusammenarbeit (TZ) in Chile und Peru und befasste sich insbesondere mit der Untersuchung von Bergbau-Altlasten. Er erklärt: „Auf heutigem technischen Stand kann kaum verhindert werden, dass nach etwa 20 bis 30 Jahren zumindest der Beckenboden nachgibt und die chemischen Substanzen austreten, in das Grundwasser, in die Böden der Umgebung […] theoretisch müssen sie instandgehalten werden, bis sie gesundheitlich unbedenklich sind und damit meine ich bis zu 150.000 Jahre“ (PW03). Alles andere seien „schöne Erzählungen“ der Industrie, die kaschieren wollten, dass es bisher keine effektiven Lösungen für das Problem gebe und der Bergbau gleichzeitig nicht aufhören könnte, diese Altlasten in großen Mengen zu produzieren, erklärt Zimmermann. Deshalb setze der Sektor nun auf neue Technologien, um die bestehenden Tailings wiederaufzuarbeiten und die in ihnen verbleibenden Metalle zurückzugewinnen. Dies sei mancherorts machbar, da es bei hohen Metallkonzentrationen wirtschaftlich rentabel für die Unternehmen sei und würde das Problem etwas erleichtern, allerdings würden auch in diesem Prozess Industrieabfälle produziert: „es ist aber immerhin besser als nichts zu tun“, so der Experte (PW03).
Besonders problematisch sind allerdings die 641 in Chile bestehenden Tailingdeponien, die zeitlich vor dem Gesetz 20.551 zur sicheren Schließung der Bergwerke (2011) entstanden sind. 467 davon sind keinem derzeit aktiven Unternehmen zuzuordnen, 174 gelten als verlassen (Sernageomin 2020). Für sie besteht weder ein rechtlicher Rahmen noch eine klare Verantwortung. Auch die finanziellen oder technischen Mittel für eine Restaurierung oder Sanierung sind nicht vorhanden (Toro Araos 2017). Diese „verwahrlosten Tailings“ wurden im Rahmen erster Untersuchungen des Sernageomin in Zusammenarbeit mit dem BGR zwischen 1999 und 2002 erstmals in einer Liste erfasst (Eberle 1998a, 1998b). Diese Liste wurde dann im Rahmen des Projekts Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes des Umweltministeriums und der Fundación Centro Nacional del Medio Ambiente (CENMA) erweitert, die Tailings priorisiert und auf ihre chemische Zusammensetzung untersucht. Außer einigen – vorher schon bekannten – Extremfällen (u. a. die Tailings in Pabellón, siehe Kapitel
6) wurden, trotz des in Chile bestehenden Transparenzgesetz (Ley de Transparencia), die Ergebnisse allerdings bisher nicht veröffentlicht.
Paula Veloz (PW05) – Beauftragte der Durchführung des Projekts in CENMA – bestätigt im Interview die schon 1999 von Dr. Eberle beschriebenen Befunde, welche alarmierende Schadstoffkonzentrationen in einer Vielzahl von Fällen feststellte. Auch unabhängige Wissenschaftler wie Cristobal Valenzuela (PW01) des Instituts IDICTEC der Universidad Atacama in Copiapó sowie einige seiner Doktoranden kommen bei der Analyse der Proben einiger der gelisteten Tailings auf ähnliche oder sogar noch höhere Ergebnisse (siehe Ausführung in Kapitel
6 zum Fall Pabellón). Valenzuela kritisiert außerdem, dass die staatliche Untersuchung zu wenige Proben pro Deponie durchführe, um eine aussagekräftige Risikobewertung durchführen zu können und es fehle ihnen zudem an Vorkenntnissen über die Entstehung der Tailings: „Viele dieser alten Tailings wurden nicht industriell hergestellt, sie sind über Jahrzehnte durch Anwendung unterschiedlicher Aufarbeitungstechniken entstanden. Sie sind also ganz und gar nicht homogen in ihrer Zusammensetzung […]. Was du hier misst, kann da drüben ganz anders sein“, erklärt Valenzuela (PW01). Er habe in Totoralillo bspw. an manchen Stellen eine viermal höhere Quecksilberkonzentration gemessen als die WissenschaftlerInnen des CENMA.
Vor dem Hintergrund der hohen Belastungen von Mensch und Umwelt, die von den Tailings ausgehen, mutet es überraschend an, dass von den 127 derzeit bestehenden sozial-ökologischen Konflikten in Chile,
90 kaum welche Tailings oder Tailingdeponien als direkte Ursache verbuchen, obwohl bei genauer Betrachtung etwa 80 Prozent der genannten Konflikte direkt oder indirekt mit dem Bergbau zusammenhängen (INDH 2016). Auch in der Öffentlichkeit werden Tailings nur selten und vereinzelt als Gesundheits- oder Umweltproblem thematisiert.
91 Selbst die Zivilgesellschaft sowie UmweltaktivistInnen und -bewegungen machen selten auf die schwerwiegenden Konsequenzen der Tailings aufmerksam.
92 Wie meine Forschung insbesondere zum Fall Pabellón zeigen wird (siehe Kapitel
6 und
9), ist die materielle Unsichtbarkeit der Tailings eine zentrale Ursache der geringen Thematisierung und der oftmals ausbleibenden Risikowahrnehmung. Schwermetalle und Chemikalien, die in Tailings vorkommen, breiten sich zudem unbemerkt in die Umgebung aus. Sie gelangen durch Wind und Regen über Luft und Böden bis in oberflächliche Gewässer und das Grundwasser. Die Materialien werden zudem von Menschen, Tieren und Pflanzen unbemerkt durch die Nahrung oder die Haut aufgenommen und entfalten ihre schädliche Wirkung auf die Gesundheit und die Natur kumulativ über lange Zeiträume. Ihre Anwesenheit in der Umgebung und in den Körpern wird meist erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung durch die Häufung von Krankheiten oder Anomalien, Phänomenen wie einem abrupten Pflanzen- oder Artensterben oder ökonomische Folgen für die naheliegende Bevölkerung, die etwa durch die Degradierung der Böden oder das Verschwinden von Meerestieren (wie im Fall von Chañaral, siehe Kapitel
8) verursacht werden, bemerkt. Um den Zusammenhang nachzuweisen, müssen offiziell anerkannte wissenschaftliche Studien durchgeführt werden. Und auch dann sind Ursachen und Konsequenzen nur sehr schwer in Beziehung zu setzten (siehe hierfür Kapitel
8 zum Fall Chañaral). Andere sozial-ökologische Probleme lassen sich von den Betroffenen hinsichtlich ihrer Ursachen in der Regel viel klarer ausmachen und konfrontieren sie zeitlich meist mit höherer Dringlichkeit.
Dennoch gibt es vereinzelte Momente der Sichtbarkeit von Tailings als sozial-ökologisches Problem in der chilenischen Öffentlichkeit, wie etwa der Einsturz des Tailingbeckens El Soldado in der Folge eines Erdbebens im Jahre 1965. Eine Flutwelle giftiger Flüssigkeiten überrollte damals das Dorf El Cobre und riss 200 Menschen in den Tod. Nebenbei wurde dabei ein Gebiet von hunderten Quadratkilometern irreversibel verseucht. Der Fall Chañaral, der in Kapitel
8 dieser Arbeit detailliert untersucht wird, hat ebenfalls einige Momente einer derartigen medialen Sichtbarkeit erlebt und besonders aufgrund des Ausmaßes der Schäden und der Verantwortung des staatlichen Konzerns Codelco für öffentliches Aufsehen gesorgt. In den letzten Jahren wiesen medizinische Studien zudem hohe Konzentrationen an Schwermetallen in den Körpern von Schulkindern nach, was den Fall erneut ins Licht der Öffentlichkeit rückte (siehe Kapitel
8). Das Tailingbecken von Las Plamas wiederum, das bei einem Erdbeben 2010 nachgab und in der Folge vier Menschen unter sich begrub, wurde Ausgangspunkt des ersten Dokumentarfilms zum Thema der Tailings
93 sowie der Gründung der bis heute einzigen NGO, die sich ausschließlich mit diesem Thema befasst (relaves.org). Ein weiterer emblematischer Fall ist der von Andacollo, einer Stadt im Norden Chiles, die durch die höchste Rate an Erkrankungen des Atemsystems aufgefallen ist. Eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen hat dieses Phänomen erforscht und mit der Anwesenheit von 18 Tailings in und direkt rund um die Stadt in Verbindung gebracht (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015:9). Zuletzt geriet auch die Tailingdeponie El Mauro – die größte Lateinamerikas – vermehrt in die Schlagzeilen. Die Tailings, die 2015 sechs Kilometer lang und 250 Meter hoch waren, verschmutztem zuletzt wiederholt Wasserquellen des Dorfes Caimanes im Norden Chiles (ebd.: 11). Die Staumauer weist dauerhaft einen immensen Erdbebenschaden auf, weshalb sie laut offiziellen Messungen bei einem Erdbeben über der Stärke von 7,5 auf der Richterskala zusammenbrechen könnte (ebd.). Das Dorf Caimanes liegt nur acht Kilometer vom Tailingdamm entfernt und würde bei einem Dammbruch gänzlich zerstört werden, weshalb die BewohnerInnen seit Jahren die Schließung und Restaurierung der Tailings fordern (INDH 2016).
Auch bei den starken Überschwemmungen im Norden Chiles in den Jahren 2015 und 2017 wurde das Thema der Tailings kurzeitig in den Medien angesprochen. Diese Überschwemmungen haben zahlreiche Tailingdeponien von aktiven Unternehmen überlaufen lassen und besonders von den ungesicherten, inaktiven oder verlassenen Tailingdeponien große Mengen an giftigen Substanzen mitgerissen. Nach der Umweltkatastrophe der Überschwemmungen von 2015, die 31 Tote und 49 Vermisste hinterließ, berichteten viele der Betroffenen von Juckreiz und Ausschlägen, brennenden Augen oder anderen Beschwerden, die sich vor allem während der Aufräumarbeiten in den überschwemmten Gebieten bemerkbar machten. Alle drei in dieser Forschung untersuchten Fälle (Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral) waren von diesen Ereignissen stark betroffen, ganz besonders die Stadt Chañaral. Durch die Überschwemmungen wurden große Mengen an Blei, Cadmium, Kupfer, Eisen, Quecksilber, Schwefelsäure und Arsen in die Straßen und Häuser vieler bewohnter Gebiete, darunter auch großen Städten wie Copiapó gespült (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015). Dies zeigte sich auch in späteren Untersuchungen der NGO OLCA
94 und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die Befunde wurden nach einer anschließenden staatlichen Untersuchung, in der niedrigere Schadstoffbelastungen gemessen wurden, als ungültig dargestellt.
Die aufgeführten Katastrophen stellen allerdings Ausnahmemomente dar, in denen Tailings sichtbar werden. Tailings werden entweder durch einen katastrophalen Unfall oder in seltenen Fällen im Rahmen eines – oftmals zufälligen – wissenschaftlichen Befundes, der die Präsenz von Schwermetallen oder Chemikalien in der Umwelt oder in den Köpern der Betroffenen bestätigt, öffentlich sichtbar. Die sichtbaren Fälle stellen im Vergleich zur Gesamtzahl an als kritisch oder alarmierend eingestuften Tailings kaum ein Bruchteil der tatsächlichen Gesundheits- und Umweltfolgen dar. Die meisten Tailingdeponien erregen nie öffentliches Aufsehen und sind in der Regel keine Ursache eines sozial-ökologischen Konfliktes.
Die Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung mit nahegelegenen Bergwerken hat ihren Ursprung meistens in Verteilungsfragen in Bezug auf Wasserressourcen und in der Überlappung mehrerer Umweltprobleme. Neben der massiven Verschmutzung der Wasserquellen durch Chemikalien und Schwermetalle ist die Austrocknung der Oberflächengewässer sowie des Grundwassers besonders schwerwiegend für die BewohnerInnen und Ökosysteme der nördlichen Gebiete, in denen sich der Bergbau konzentriert. Durch die Konzentration der Wasserrechte sind staatliche Maßnahmen zum Erhalt oder der Erholung der Quellen allerdings kaum möglich (Landherr, Graf & Puk 2019:87). Der Abbau von Metallen und Mineralien trägt einen wesentlichen Anteil zur Knappheit von Wasser und Energie bei.
5.3.2 Die bestehende Regulierung zu Tailings und der Umgang mit Bergbauabfällen
Die Tailings stellen je nach Zusammensetzung, Lagerungsform und -ort unterschiedliche soziale und ökologische Risiken und Herausforderungen dar. Einmal angelegt müssten sie teilweise Jahrhunderte lang instandgehalten und gewartet werden, um die Ausbreitung ihrer toxischen Elemente zu verhindern (Werner Zimmermann PW03, Mitarbeiter des BGR). Die bestehende Regulierung ist allerdings lückenhaft und unzureichend und trifft nur für die ab 2012 neu angesetzten Tailingbecken und -dämme zu. Die große Mehrheit der 758 bekannten Tailingdeponien des Landes bleiben unbehandelt in der Landschaft als Altlasten zurück, wenn das Bergbauunternehmen ein Bergwerk schließt.
Tailings stellen dabei den größten Teil der Altlasten des Bergbausektors dar. Unter solchen Altlasten des Bergbaus (pasivos ambientales mineros) fasst die Asociación de Servicios de Geología y Minería Iberoamericanos (ASGMI
95) alle Bergbauinstallationen wie etwa offene Gruben, unterirdische Schacht- und Tunnelanlagen und Gebäude sowie Hinterlassenschaften wie Industrieabfälle, Tailings oder Schlacke (sowie alle anderem Bergbaurückstände) oder betroffene Flächen, Kanäle, Werkstätten, Maschinenparks, Minerallagerstätten sowie alle weiteren Anlagen eines geschlossenen Bergwerks. Diese Hinterlassenschaften eines inaktiven oder verlassenen Bergwerks stellen ein dauerhaftes potenzielles Risiko für die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung, für die Biodiversität sowie für die Umwelt im Allgemeinen dar (Adasme et al. 2010).
Die Altlasten, die das größte Risiko in sich bergen, sind die Tailings. Diese stellen 60 bis 80 Prozent der Altlasten dar (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015). Bei Tailings handelt es sich um ein Nebenprodukt der Aufbereitung der Erze im Bergbau. Die feinkörnigen Rückstände enthalten je nach Mineralien oder Metallen, die aus dem Erz extrahiert werden sollen, unterschiedliche Chemikalien und oftmals giftige Stoffe wie Quecksilber, Arsen, Cadmium, Chrom, Kupfer oder Blei (Yurisch Toledo 2016:8). Das chilenische Umweltministerium definiert Tailings im Decreto Supremo Nr. 248 (entsprechend der heutigen Lagerform) wie folgt: Tailings stellen eine Abfallform dar, die Resultat mehrerer Produktionsschritte der Weiterverarbeitung von Erzen ist. Aus der Mischung aus Feststoffen und Flüssigkeiten, die durch diese entstehen, ergibt sich in den meisten Fällen ein Schlamm (pulpa). Das Konzept kann auch für die reinen Feststoffe, die in diesem Prozess produziert werden, genutzt werden. Als Tailingdeponien werden all jene sicheren Strukturen verstanden, die zur Lagerung der Tailings errichtet und genutzt werden und deren wichtigste Funktion die langfristige, meist endgültige Lagerung der festen Bestandteile der in den Anlagen produzierten und meist durch Wasser weitertransportierten Tailings ist (Ministerio de Minería 2007). Die häufigsten Lagerformen stellen heute Staubecken (embalses) oder Tailingdämme (tranques) dar. Während bei ersteren eine Staumauer errichtet wird, werden zweitere mit den festeren Bestandteilen des Tailings selbst gebaut, was wiederum Unterschiede für ihre physische und chemische Stabilität bedeutet (Yurisch Toledo 2016:6). Je nach Zusammensetzung und Flüssigkeitsgrad werden sie als relaves espesados, bei denen durch einen Sedimentationsprozess ein Großteil des Wassers entzogen wird, relaves filtrados, bei denen durch einen Filtrierungsprozess die Mehrheit des Wassers wieder in den Produktionsprozess geleitet wird oder relaves en pasta, die eine Zwischenform der beiden darstellen, eingestuft (Cámara de Diputado de Chile 2011). Darüber hinaus werden sie zudem nach ihren unterschiedlichen Konstruktionsformen klassifiziert (siehe Yurisch Toledo 2016: 7). Die meisten Tailings in Chile werden in Tailingdämmen gelagert. Bis vor einigen Jahrzehnten wurden die Tailings des chilenischen Bergbaus allerdings mehrheitlich anderweitig entsorgt, wofür besonders häufig Flüsse, Seen, Schluchten und Täler, aber auch direkt das Meer (siehe Kapitel
8 zu Chañaral) genutzt wurde. Im besten Fall wurden sie ungesichert auf größeren Flächen angehäuft, die dann – sobald das Vorkommen aufgebraucht war – zusammen mit den restlichen Bergbauaktivitäten verlassen wurden (Yurisch Toledo 2016:9, siehe auch Kapitel
6 zum Fall Pabellón).
Die zentralen Risiken der Tailings bestehen in der Möglichkeit seiner physischen Instabilität, die zu einem Zusammenbruch der Tailingdeponie sowie der chemischen Instabilität, die zu Dränagen von Säuren und Chemikalien in Böden und Wasserbestände führen kann (Sernageomin 2013). Besonders diese beiden Risiken können schwerwiegende Folgen für die nahegelegene Bevölkerung und die Umwelt haben. Dammbrüche sind gerade in einem erbebenreichen Land wie Chile nicht unwahrscheinlich. Ihre unmittelbare Folge kann die Überflutung bzw. Überschüttung ganzer Landstriche und bewohnter Gebiete durch tonnenweise giftiges Material sein. Langfristig breiten sich die Chemikalien und Schwermetalle zudem auf die Umgebung aus und verändern Ökosysteme, Landschaften, produktive Böden und Wasserquellen auf irreversible Weise. Chemikalien und Schwermetalle können allerdings auch durch ungewollte bzw. unerkannte Dränagen des Auffangbeckens sowie durch Überschwemmungen, starke Winde oder andere Wettereinflüsse teilweise über sehr lange Zeiträume in die Umgebung gelangen und deren BewohnerInnen belasten. Zu den typischen Umweltschäden, die durch Tailings verursacht werden, gehören die Verseuchung der Gewässer mit giftigen Chemikalien, die während des Produktionsprozesses beigemischt wurden oder mit Schwermetallen, die in den Tailings enthalten sind, die Verschmutzung der Böden, die durch giftigen Staub oder verseuchtes Wasser ihre Fruchtbarkeit und ihre Vegetation verlieren sowie zuletzt die Luftverschmutzung der durch Wind, Transport oder den Produktionsprozess selbst aufgewirbelten (Fein)Staubpartikel.
Über den Verdauungstrakt, die Haut oder die Lunge gelangen die Chemikalien – und besonders die Schwermetalle – in die Körper die betroffenen Menschen, Tiere und Pflanzen. Gerade Schwermetalle werden Teil der Nahrungskette und gliedern sich in die Körper von Lebewesen durch Prozesse der Bioakkumulation ein. Sie entfalten dort, je nach der Toxizität, direkten Einfluss auf die physiologischen Vorgänge des Körpers. Sie können in großen Mengen zu Vergiftungen und langfristig auch niedriger dosiert zu schwerwiegenden Krankheiten führen, die je nach Substanz bzw. Überlappung mehrerer Substanzen sehr verschiedene Ausprägungen annehmen (Yurisch 2016:11 ff.; Toro Araos 2017). Da jede Tailingdeponie eine ganz eigene Komposition hat, lassen sich die möglichen gesundheitlichen Folgen ihrer Schadstoffbelastung nicht pauschalisieren. Sie hängen direkt von den einzelnen Komponenten und ihrer Zusammenwirkung ab. Deshalb werden in den Kapitel
6,
7 und
8 die jeweils zu diesen Tailings bestehenden wissenschaftlichen Ergebnisse kurz wiedergegeben und die in ihnen bestehenden Schadstoffe und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Organismus, sowie die möglichen gesundheitlichen Schäden beschrieben.
Durch die großen Mengen an Tailings, die in Chile existieren, handelt es sich bei den Bergbauabfällen um ein massives sozial-ökologisches Problem. Dies gilt noch einmal mehr in Hinblick auf die Zukunft der heutigen Bergbauregionen (Yurisch Toledo 2016). Bewohnte Gebiete und ganze Städte wie etwa Andacollo, Tierra Amarilla, Copiapó oder Arica sind regelrecht von Tailingdeponien umzingelt (vgl. Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015; Landherr & Graf 2022). Die verseuchte Umwelt führt schon heute zur Häufung von akuten Krankheiten (die Komponenten wirken außerdem langfristig krebs-, geschwür- und mutationsfördernd sowie fortpflanzungsgefährdend), einer sehr niedrigen Lebensqualität und daraus folgend zu einer Migration der Bevölkerung. Die Böden, Gewässer und Meeresbuchten sind zudem größtenteils irreversibel verseucht (durch Landwirtschaft oder Fischerei werden die toxischen Substanzen durch die Nahrungsmittel in andere Regionen getragen) und durch ihre Sterilität unbrauchbar für jegliche zukünftige wirtschaftliche Aktivitäten. Die massiven Schäden der ökologischen Kreisläufe und Ökosysteme sind ebenfalls irreversibel. Die Langzeittoxizität der einzelnen Elemente, wie Quecksilber, Arsen, oder Blei, die auch vermehrt in den drei in dieser Forschung empirisch untersuchten Tailings vorkommen, wird von ExpertInnen auf tausende bis hunderttausende Jahre geschätzt. Allein diese Spannbreite und die fehlenden genauen Angaben, bei sonst bis auf vielfache Nachkommerstellen genaue Studienergebnisse, zeugt einmal mehr von dem wissenschaftlich inhärenten Nichtwissen bezüglich der Langzeiteffekte von Schadstoffbelastungen dieser Art (Weinberg 2010; Terram 2003; Sernageomin 2018).
Der Unternehmerverband Consejo Minero gibt sich mit Blick auf die Tailings problembewusst und verweist darauf, dass es besonders die alten Tailings seien, die Unfälle verursachten und di ein großes Problem für das Image der Bergbauunternehmen darstellten. Die großen Bergbauunternehmen hingegen würden ihre Tailings mit Berücksichtigung der höchsten internationalen Standards bauen und seien somit strukturell und chemisch stabil, beteuert Sebastián Donoso (PU03), Vorstandsmitglied des Unternehmensverbandes. Donoso fügt hinzu: „Und dabei geht es nicht um Geld, es geht um, sagen wir, die Lebensfähigkeit der Industrie. Die Industrie weiß, dass ein Dammkollaps oder ein anderes Problem dieser Größenordnung in Frage stellen würde, wie es in Chile mit dem Bergbau weitergeht“ (PU03). Der Staat sei allerdings viel zu permissiv mit den mittleren und kleinen Unternehmen, die oftmals schlechte Umweltpraktiken hätten. Donoso sieht darin ein ideologisches Problem: der Staat und die öffentliche Meinung würde diejenigen in die Mangel nehmen, die erfolgreich sind und sich nicht wirklich um Umweltprobleme zu kümmern: „Es ist viel einfacher, die großen, mächtigen, reichen und ausländischen Player zu beschuldigen“ (PU03). Donoso gibt sich gleichzeitig verständnisvoll, was die Sorgen der lokalen Bevölkerung angeht und berichtet von den vielen staatlichen Auflagen, die der Bergbau einhalten muss, um einen Tailingdamm zu errichten und den Widerstand der Bevölkerung zu umgehen. Dies sei besonders deshalb problematisch für den Sektor, weil die Bergwerke auf der Suche nach neuen Vorkommen auch immer näher an die großen Städte und in den Süden des Landes vordringen. Deshalb würde nun alles auf technologische Innovation gesetzt, um die entstehenden Tailings und die betroffenen Gebiete anschließend zu restaurieren.
Die Lobby der großen (Bergbau)Unternehmen hat es bisher geschafft, ihre Interessen in der Verfassung und Gesetzgebung zu sichern (siehe oben) und alle grundlegenden Reformversuche – bspw. des Wasserkodexes – bisweilen zu verhindern. Die politische Priorisierung des einflussreichen Sektors hat ihm zudem in den letzten Jahrzehnten einen Freifahrtsschein ausgehändigt. So wurde bis 2012 bspw. weder die Entsorgung bzw. Lagerung der durch den Bergbau entstandenen Tailings und Altlasten oder etwa die spätere sichere Schließung der Bergwerke auf irgendeine Weise reguliert. Erst 2010 wurde in Chile das Umweltministerium eingeführt. Die ineffektive und veraltete Form der Evaluación Ambiental bestand weiterhin bis 2013 und wurde erst dann durch das neue System des Sistema de Evaluación de Impacto Ambiental (SEIA) ersetzt (die auch das Gesetz 20.417 berücksichtigt). Obwohl auch dieses System erhebliche Mängel aufweist und die staatliche Kontrolle ihrer Einhaltung mehr als unzureichend ist (besonders wegen fehlenden ökonomischen Mitteln der lokalen Behörden), haben sich gerade die Verschärfungen im Bereich der Umweltregulierung als großes Problem für den Sektor herausgestellt, da die bestehenden Werkzeuge von der Zivilgesellschaft tatsächlich immer häufiger genutzt werden. So erzählt Sebastián Donoso (PU03), ein Vertreter des Consejo Minero, die steigende Zahl an kollektiven juristischen Klagen und gerichtlichen Verfahren gegenüber neuen Bergbauprojekten sei derzeit das größte Hindernis für die Ausweitung des Sektors und stelle eine schwierige Hürde für ausländische Investitionen dar.
Da es bisher keine direkte Regulierung der Tailings im Allgemeinen gibt, müssen Betroffene und die Zivilgesellschaft bei derartigen Klagen derzeit auf folgende bestehende Umweltregulierungen und Bergbaugesetze zurückgreifen:
a)
Artikel 19 Nummer 8 und Artikel 20 der politischen Verfassung von 1980 legen den Umweltschutz fest.
b)
Das 2002 erlassene Gesetz 31.333/1926 reguliert die Neutralisierung von Industrieabfällen, gibt allerdings weder die Art der Neutralisierung noch die zu erfüllenden Parameter dafür vor.
c)
Das Gesetz 19.300
96 von 1994 auf das Recht in einer schadstofffreien Umwelt zu leben (auf Spanisch el derecho a vivir en un ambiente libre de contaminación) stellt den grundlegenden Rahmen zum Schutz und Erhalt der Natur auf. Gleichzeitig werden durch dieses Gesetz die Instrumente und Werkzeuge für diesen Schutz definiert, wie etwa das Sistema de Evaluación de Impacto Ambiental (SEIA – System zur Evaluierung der Umweltbelastung). Das Gesetz sichert zudem den Zugang zur Information bezüglich Umwelt(schäden) und Natur(zerstörung) und legt die Verantwortungen bei Umweltverschmutzung sowie die Kontrollmechanismen und die zuständigen Institutionen und Behörden fest.
d)
DS 132/2002 Reglamento de Seguridad Minera (Bergbausicherheitsverordnung) verpflichtet die Unternehmen bei Stilllegung eines Werks zu einem Schließungsplan und sieht die technischen Anforderungen hierfür vor.
e)
Gesetz 20.551 von 2011 reguliert die Schließung von Bergwerken und der zugehörigen Anlagen. Dabei ist auch die sichere Lagerung der Tailings und die chemische und physikalische Stabilität der Becken, Dämme oder anderer Lagerformen mitinbegriffen.
97
Derzeit bestehen allerdings noch wichtige Lücken im Rechtssystem, um Tailings regulieren zu können. Es finden sich keine Richtwerte oder Normen rund um Bodenverseuchung oder die Produktion und anschließende Lagerung oder Freisetzung von festen und flüssigen industriellen Abfallprodukten (Yurisch Toledo 2016:23 ff.). In den meisten Fällen können aufgrund der Rechtslage zudem rechtliche Maßnahmen nicht präventiv eingesetzt werden, sondern erst ergriffen werden, wenn ein Umweltschaden schon eingetreten ist (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015:15). Während aktive Bergbauunternehmen seit 2012 einen Schließungsplan vorlegen und somit Verantwortung für ihre Altlasten übernehmen müssen (obwohl auch hier wichtige Schlupflöcher im Gesetz bestehen, die die meisten Unternehmen rückwirkend davon befreien, siehe Yurisch Toledo 2016:27 f.), trifft dies nicht auf bereits geschlossene Bergwerke zu, selbst wenn deren Unternehmen noch existieren und rechtlich die BesitzerInnen der Tailings feststehen. Auch was die Restaurierung oder Sanierung von Altlasten und insbesondere von Tailings anbelangt gibt es in Chile derzeit weder eine gesetzliche Regulierung noch zuständige Behörden.
Es ist die Aufgabe (und laut Gesetz 19.300 auch rechtliche Zuständigkeit) des chilenischen Staates, sich um die Lösung der mit den Tailings einhergehenden Umweltprobleme zu kümmern (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015:15). Allerdings verfügt der Staat derzeit weder über die finanziellen Mittel oder Instrumente noch über die technischen Kapazitäten, um eine solche Sanierung durchzuführen (Toro Araos 2017). Die Schwäche der öffentlichen Institutionen wird durch eine lückenhafte Regulierung ergänzt. Das Gesetz 20.551 ist das einzige, dass sich explizit mit Altlasten des Bergbaus befasst. Es reguliert diese allerdings erst, wenn das Bergwerk schließt und betrifft nur die aktuell funktionierenden Bergbauunternehmen. Obwohl es seit 2011 ein Gesetz gibt, dass die sichere Lagerung und die Schließung von Tailings reguliert, sei es ein Trugschluss zu glauben, das Problem wäre damit gelöst, erklärt der Forscher Genaro Arrieta (PW04). Nach der Stilllegung eines Bergwerks seien die Unternehmen von weiteren Verantwortungen befreit, während der Staat und die Gesellschaft diese über Jahrtausende warten und überwachen müssten, wenn sie eine Verseuchung oder einen Kollaps vermeiden wollen, so der Experte (PW04). Werner Zimmermann vom BGR ergänzt im Interview: „wenn man die späteren ökonomischen Wartungskosten der Tailings mitrechnen würde, wäre der Bergbau alles andere als ein rentables Geschäft“ (PW03).
Alle vor 1994 beendeten Bergbauaktivitäten wurden samt Tailings und allen Anlagen ohne jegliche Behandlung oder Form der sicheren Schließung stillgelegt. Bis 2010 – das heißt, vor dem Gesetz 20.551 – gab es keine genauen Vorgaben dazu, was eine sichere Schließung überhaupt beinhaltet. Von den bis heute von Sernageomin gezählten 758 Tailings gelten nur noch 112 als aktiv und können einem funktionierenden Unternehmen zugeordnet werden. Dazu kommen noch fünf weitere, die sich derzeit im Bau befinden. Für alle anderen, das heißt die 467 Tailings, die als nicht aktiv und die 174 die als verlassen gelten (Sernageomin 2020), besteht keinerlei Regulierung. Ihre Schadstoffe breiten sich weiterhin ungehindert auf ihre Umgebung aus (Toro Araos 2017). Die lückenhafte Regulierung geht so weit, dass es kein chilenisches Gesetz gibt, das Altlasten oder Tailings als solche überhaupt definieren würde. Den einzigen solchen Versuch stellt der Gesetzesentwurf, der 2002 vom Sernageomin und dem BGR eingereicht wurde und bis heute nicht im Kongress besprochen wurde, dar. Die betroffene Bevölkerung ist den Tailings also ohne konkrete juristische Werkzeuge ausgesetzt.
Sebastián Donoso (PU03) beklagt sich trotz der laxen chilenischen Umweltregulierungen über die Kraft der sozial-ökologischen Bewegungen des Landes: „wenn du dir anschaust, was in den letzten fünf Jahren mit den großen Energie- und Bergbauprojekten passiert ist, kommst du zu einer bedauerlichen Schlussfolgerung, kein einziges wurde bisher zugelassen“ (PU03, das Interview stammt von 2017). Später räumt er ein, dass es ein „paar Ausnahmen“ gibt, in denen es zu einer Zulassung kam. Donosos Analyse ist, dass der Erfolg der Proteste zum Stopp der Großprojekte weniger mit der bestehenden staatlichen Regulierung zu tun habe als mit einer politischen Position, die sich gegen große Megaprojekte richtet und mittlerweile auch das Justizwesen durchdrungen hätte. Obwohl die Ministerien den Bergbau unterstützen würden, seien es die lokalen Behörden und die Staatsbeamten „der dritten Reihe“, die es schaffen würden, die Projekte mit Argumenten des Umweltschutzes zu verhindern: „Die Gerichtsurteile, die diese Projekte lahmgelegt haben, haben weniger mit der Anwendung der Regulierungen zu tun als mit bestimmten Überzeugungen“ (PU03). Die Behörden würden einem wachsenden Widerstand in der Bevölkerung gegen diese großen Projekte nachgeben, obwohl die Investoren alle Umweltstandards einhielten. Zwischen den Ministerien und den anderen Behörden würde in dieser Hinsicht ein „Gespräch der Tauben“ stattfinden: „Die einen reisen durch die Welt und versprechen Inverstoren das Goldene vom Himmel und die anderen verhindern dann eben diese Projekte, die sich an alle Regeln gehalten haben, teilweise mit den absurdesten Argumenten“ (PU03).
Der Beauftragte für nachhaltige Entwicklung des staatlichen Unternehmens Codelco, Sergio Rojas (FU06), sieht in den Tailings ein hohes Potenzial für die lokale Bevölkerung, Gelder als Kompensationen von den Bergbauunternehmen einzufordern. Bergbaugebiete seien oftmals sehr abgelegen – „dort, wo der Staat nicht hinkommt“ – und den Menschen würde es an grundlegender Infrastruktur und Dienstleistungen fehlen. Wenn dann ein Unternehmen kommt, dass einen riesigen Umsatz macht, stellt sich das für die BewohnerInnen als einzige Chance dar, ihre Lebensstandards zu verbessern. Sie fordern von den Unternehmen die Errichtung von Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie neue Straßen oder etwa den Zugang zu Trinkwasser, einem Arzt oder einen bestimmten Spezialisten vor Ort. Besonders beim staatlichen Unternehmen Codelco würden die Menschen dabei oft das Unternehmen mit dem Staat gleichsetzten, so Rojas: „Das Unternehmen wird zum öffentlichen Dienstleister und je präsenter das Umweltthema in der Gemeinde ist, desto stärker wird gefordert […]. Wir [Codelco] werden als Wohlfahrtsstaat umfunktioniert. Und das passiert besonders beim Thema der Tailings“, erklärt Rojas (FU06). Tailings würden als „Monster“ dargestellt. Deswegen würden die AnwohnerInnen alle ihre körperlichen Beschwerden auf die Tailings schieben, aber das sei meistens nicht die Ursache, so Rojas. Die Unternehmensstrategie bestünde dann darin, Allianzen aufzubauen, mit den Bürgermeistern, den Juntas de Vecinos (Nachbarschaftsorganisationen), mit den Dirigentes, um über diese mit der „aufgebrachten Gemeinde“ ins Gespräch zu kommen: „Wenn das Unternehmen den Forderungen dann nachgibt, heißt es wieder, wir hätten die Widerständigen gekauft. Dadurch entstehen wieder viele Irritationen in der Kommunikation zwischen Unternehmen und Gemeinde und Spaltungen innerhalb der Bevölkerung“, führt er fort (FU06). Gleichzeitig erklärt der Unternehmensvertreter aber auch, dass die Sorgen der Bevölkerung ernst genommen werden müssten. Das sei vor allem im Interesse des Unternehmens, da bei den heutigen Prognosen und auch aufgrund der künftigen Intensivierung des Bergbaus die bestehende Umweltbelastung noch gesteigert werden könnte. Besonders die Produktion von Tailings sei unvermeidlich, weshalb die Akzeptanz der AnwohnerInnen eine Grundvoraussetzung für die weitere Arbeit der Unternehmen sei. Mehr als auf die Restaurierung an sich müsste das Unternehmen deshalb auf eine gute Corporate Social Responsability (CSR) Politik setzten, so Rojas (FU06).
Ein weiteres Hindernis für die Lösung der durch Tailings verursachten Umweltschäden besteht in der starken Betonung des Rechts auf Privateigentum in der chilenischen Verfassung. Während die teilweise noch existierenden Bergbauunternehmen zwar bislang nicht rückwirkend für die von ihnen vor 2011 produzierten Tailings verantwortlich gemacht werden können, hat der Staat gleichzeitig keinen Zugriff auf diese Abfalldeponien, da sie Privateigentum eben dieser Unternehmen darstellen, so die Mitarbeiterin des Umweltministeriums, Isabel Contreras (PS01). Da die mit älteren Technologien weiterverarbeiteten Erze teilweise noch große Mengen an Metallen und Mineralien enthalten, wird mit Hinblick auf technologische Innovationen, die die Wiederaufarbeitung der Tailings rentabel machen, heute schon mit Bergbaumüll spekuliert.
98 Die verfassungsmäßige Garantie des Privateigentums macht die staatliche Restaurierung – aufgrund der dafür notwendigen Entschädigungen des besitzenden Unternehmens – noch kostspieliger. Statt der Verbesserung der Rechtslage und der Verstaatlichung der Abfälle, die dem Staat die Handlungsmöglichkeit zurückgeben würde, setzte die Regierung von Sebastián Piñera (2018–2022) weiterhin auf die Privatisierung und Kommodifizierung der Tailings. Mit der Kampagne „Adoptier ein Tailings“
99 (
adopta un relave) wurden neue private Bergbauunternehmen dazu angehalten, in verlassene und inaktive Tailings zu intervenieren, um sich dies als Kompensationsmaßnahme anrechnen zu lassen.
100 Wenn die Sanierungs- oder Restaurierungsmaßnehmen es zulassen, können dabei vom Unternehmen die bestehenden Tailings wieder verarbeitet und die in ihnen vorhandenen Metalle extrahiert und verkauft werden. Je nach Tailings kann dieses Verfahren also auch ökonomisch durchaus rentabel für die Unternehmen sein, die dadurch gleichzeitig ein „greening“ ihrer übrigen Aktivitäten betreiben und auf diese Weise das Image ihres Unternehmens verbessern können. Die Kommodifizierung und Wiederaufbereitung des Abfalls wird hierbei als Umweltschutz dargestellt, wobei es auch keine klaren Vorschriften für den Wiederaufarbeitungsprozess und die Handhabung der daraus resultierenden Tailings gibt (oftmals werden sie einfach in andere Tailingbecken inkorporiert).
5.3.3 Tailings: eine besonders schwerwiegende und trotzdem unsichtbare Umweltbelastung
Seit meinen ersten Forschungen zum Thema der Tailings zwischen 2014 und 2015 und meiner darauffolgenden zwei Abschlussarbeiten hat sich bezüglich der Sichtbarkeit der Tailings kaum etwas verändert (siehe Kapitel
3 zu Fragestellung und Thesen). Damals wurde im Rahmen des durchgeführten Forschungsprojekts eine gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings sowie eine generelle Tatenlosigkeit der beteiligten Akteure und ein weitverbreitetes Nichtwissen bezüglich Tailings, besonders unter den Betroffenen diagnostiziert. Genaro Arrieta
101 ist neben Sebastián Ureta, Mauricio Folchi, Iván Ojeda oder Fernando Campos einer der wenigen, die seit Jahren zum Thema der Tailings arbeiten. In meinem letzten Interview 2019 mit ihm bestätigte er meine Diagnose einer weiterhin bestehenden Unsichtbarkeit des Themas, trotz des wachsenden Umweltbewusstseins der ChilenInnen in den letzten Jahren, sowie der Zunahme an sozial-ökologischen Konflikten und der Umweltbewegungen:
„Das Problem der Tailings ist, dass sie auf den ersten Anschein Umweltprobleme mit geringer Auswirkung sind, weil diese so schwer zu ermitteln sind […]. Die Symptome und die Toxizität können zwar schwerwiegende Folgen haben, aber oft erst langfristig. Sie zu bestimmen und als von anderen Umweltproblemen getrennt zu begreifen, ist sehr schwierig. Tailings und die Bodenverschmutzung im Allgemeinen sind so etwas wie der arme Bruder der Wasser- und Luftverschmutzung. Die beiden sind immer die großen Prioritäten der Leute, der Medien und auch der sozialen Bewegungen. Böden und vor allem Tailings stehen ganz weit hinten an. Tailings sind konstant und unscheinbar und wenn du daran stirbst, weiß man nie genau, ob du daran gestorben bist oder an etwas anderem. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass das Thema jemals ein öffentliches Anliegen wird. Wenn du dir die Geschichte anschaust, die wenigen Male, in denen das Thema Teil der öffentlichen Debatte geworden ist, war es im Zusammenhang mit großen Katastrophen an denen Tailings beteiligt waren […] nie wegen ihrer alltäglichen Giftigkeit“ (PW04).
Die materielle Unsichtbarkeit der in der nordchilenischen Wüste häufig wenig auffälligen Tailings wird durch das scheinbar statische Erscheinungsbild der Tailings verstärkt. Im Gegensatz zu Wasser oder Luft, die sich dynamisch verhalten, was eine schnellere Wahrnehmung von Veränderungen dieser Bewegungen (bspw. Rauch, Staub, Trübheit oder Farbveränderungen) erlaubt, geben Tailings ihre giftigen Komponenten unbemerkt und langsam, aber konstant über lange Zeiträume ab. Zudem hat kein einziges Tailings dieselbe Komposition wie ein anderes, jede Erzzusammensetzung und in diesem Zuge auch jeder Produktionsprozess ist einzigartig und über die Zeit auch nicht konstant. Das macht auch einen wissenschaftlichen Nachweis der Anwesenheit der giftigen Komponenten notwendig, um das Problem als solches zu diagnostizieren bzw. es überhaupt als Umweltproblem definieren zu können. Messungen wiederum erfolgen meistens erst dann, wenn die Schäden nach langjähriger Exposition schon spürbare Wirkungen entfaltet haben. Selbst bei erfolgreich erhobenen Daten über die Zusammensetzung der Tailings ermöglichen es diese Erkenntnisse in den meisten Fällen noch nicht, die Tailings als Ursache der sichtbargewordenen Schäden auszumachen (siehe Kapitel
8 zum Fall Chañaral). Zudem fehlen in Chile jegliche Richtwerte und Normen, um die erhobenen Daten einstufen und die Tailings als Risikoquelle definieren zu können. Dies ist auch der Grund, warum nur sehr selten Studien durchgeführt werden, die Tailings als Ursache von Gesundheitsschäden nachweisen können, obwohl dies an vielen Orten des Landes versucht wird. Hohe Schwermetallkonzentrationen im Blut der Betroffenen etwa reichen allein nicht aus, um zu beweisen, dass die nahegelegenen Tailings die Ursache für Erkrankungen ist.
Dennoch konnten in den letzten Jahren Untersuchungen unter der Leitung der Ärzte Dr. Andrei Tchernitchin und Dr. Dante Cáceres die Beziehung zwischen Tailings und deren Gesundheitsfolgen im Fall von Chañaral nachweisen (diese sind ausführlich in Kapitel
8 beschrieben). Da die Herstellung einer kausalen Beziehung einer hohen Schwermetallkonzentrationen im Blut und ihrer Ursache wegen der Notwendigkeit langer Expositionszeiträume außerhalb einer experimentellen Situation fast unmöglich ist (von den tatsächlich ausgebrochenen Krankheiten zur Ursache ist es noch schwieriger) und die finanziellen Mittel für eine aufwendige Untersuchung fehlten, hat sich die Untersuchung von Dr. Dante Cáceres bspw. auf die durch Tailings verursachte Luftverschmutzung und Atemwegserkrankungen bei Kindern konzentriert. Besonders diese Studie erhielt mediale Aufmerksamkeit und führte kurzzeitig zur Sichtbarkeit von Tailings als Ursache von schwerwiegenden Gesundheitsproblemen.
102 In der gleichen Zeit wurde auch in Arica die massive Quecksilber-, Arsen und Bleivergiftung der Bevölkerung eines Stadtviertels auf giftigen Industriemüll zurückgeführt.
103
Die genannten Studien stellen allerdings Ausnahmen dar. Finanziert wurden sie nur, weil es sich bei beiden Forschern um zwei der renommiertesten Toxikologen Chiles handelt. Dabei fiel die Finanzierung für das Vorhaben knapp aus. In der Regel werden unabhängige Studien, die sich kritisch mit dem Bergbausektor auseinandersetzen, weder von öffentlichen noch privaten Geldgebern unterstützt. Dies ist noch weniger der Fall, wenn der Verursacher wie in diesem Fall das staatliche Unternehmen Codelco ist. Dr. Cuevas, ein Kollege der beiden Toxikologen, der ebenfalls an einer den Studien beteiligt war, (CE02) erzählt im Interview, dass er in der Zwischenzeit Angebote und sogar Bestechungsgelder von mehreren großen Unternehmen bekommen habe, sogar Drohungen seien dabei gewesen. Gerade jetzt, wo er an einer kritischen Studie dieser Art mitgewirkt habe, sei seine Expertise für Unternehmen besonders wertvoll geworden, da sie Objektivität ausstrahle (CE02). Viele seiner KollegInnen werden auf diese Weise von den Unternehmen angeworben, teilweise auch um seine eigenen Untersuchungen zu widerlegen. Dafür bekommen sie große Geldsummen, die es ihnen ermöglichen, aufwendigere Untersuchungen durchzuführen, aber vor allem dem Unternehmen die Gewissheit geben, dass die Ergebnisse ihren Interessen entsprechen. ForscherInnen würden solche Angebote meistens nicht nur zum Zwecke persönlicher Bereicherung akzeptieren, sondern aus tatsächlicher finanzieller Not (CE02). Dr. Jedamczik (FW07) wiederum erzählt, wie er, nachdem er Quecksilber, Eisen und Mangan in erhöhten Konzentrationen im Trinkwasser in der Nähe der Tailings El Mauro nachgewiesen hatte, versuchte das Unternehmen Los Pelambres der Familie Luksic dafür rechtlich verantwortlich zu machen. Zuerst bemühte sich das Unternehmen, die Ergebnisse durch „offiziellere“ und „bessere“ Untersuchungen zu widerlegen. Gleichzeitig verklagte es mehrere der Anführer der (Umwelt-) Bewegung, wofür Dr. Jedamczik wiederum als Zeuge geladen wurde. Im Prozess wurde dann das gesamte Privatleben des Arztes aufgerollt, um seine Glaubwürdigkeit als Person infrage zu stellen. Darunter wurden sogar falsche Behauptungen der häuslichen Gewalt herangezogen, die kurz darauf von seiner Exfrau aufgeklärt werden mussten. Da seine wissenschaftlichen Befunde eindeutig waren und er als einer der führenden Toxikologen des Landes großes Ansehen genießt, hätten die Anwälte dieses Vorgehen des Schürens öffentlicher Zweifel an der Integrität seiner Person gewählt, um das Unternehmen zu retten, erzählt er (FW07). In diesem Fall sei die Strategie allerdings nicht aufgegangen, der Tailingdamm sollte abgerissen werden. Ein Jahr später wurde dieses Urteil durch die Ergebnisse einer neuen Untersuchung allerdings aufgehoben.
Die mangelhafte Wissensproduktion im Bereich der Tailings hat nicht zuletzt mit der Prekarität der chilenischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu tun. Die meisten NGO, die auf nationaler Ebene arbeiten, haben große Finanzierungsprobleme und hängen im Wesentlichen von privaten und ausländischen Finanzierungen ab. Auch wenn sie größtenteils inhaltlich unabhängig arbeiten, sind diese Finanzierungen meistens projekt- oder themengebunden, erzählt Fabiola Contreras (PZ04), die Leiterin einer der führenden chilenischen NGO im Bereich des Umweltschutzes. Auch Antonio Peña und Sergio Gaete (PZ05, FZ06), Direktoren anderer NGO, die sich häufiger mit dem Bergbausektor beschäftigen, bestätigen das. Der Fokus der Arbeit dieser NGO liegt auf einem eigens entwickelten Management sozial-ökologischer Konflikte in Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Sie sind dort präsent, wo es zu Konflikten kommt und Probleme sichtbar werden, um vor Ort die Betroffenen zu unterstützen (PZ05). Da es bei Tailings nur sehr selten zu Konflikten kommt, arbeiten die NGO kaum zu diesem Thema. Eine ähnliche Tendenz lässt sich bei allen großen NGO im Bereich des Umweltschutzes – wie etwa Chile Sustentable, Fundación Terram oder Observatorio Latinoamericano de Conflictos Ambientales (OLCA) – ausmachen. Alle haben zwar mindestens eine Publikation zum Thema der Altlasten veröffentlicht, befassen sich aber sonst – außer bei wenigen emblematischen Fällen und Konflikten – nicht mit dem Thema. Auch die internationalen NGO wie Greenpeace oder WWF widmen sich dem Thema der Tailings nicht. Die einzige NGO, die dies gezielt tut, ist die nach dem Tailingdammbruch in Las Plamas von Henry Jurgens, einem der Betroffenen, gegründete NGO Relaves. Ihr Ziel besteht vor allem darin, eine staatliche Regulierung von Tailings zu erkämpfen und die Verbreitung von technischer Information zu verbessern (FZ07, FZ04, FZ05). Hinzu kommen noch vereinzelt lokale NGO wie etwa Chadenatur in Chañaral, die sich spezifisch mit einer bestimmten Tailingdeponie und den sozial-ökologischen Folgen beschäftigen und dafür vollständig auf die ehrenamtliche Arbeit ihrer Mitglieder angewiesen sind (siehe hierfür Kapitel
8 zu Chañaral).
Während es sich für unabhängige WissenschaftlerInnen und zivilgesellschaftliche Akteure als sehr schwer erweist, offiziell anerkanntes wissenschaftliches Wissen über Tailings und ihre Folgen für Umwelt und Menschen zu generieren und auf diese Weise das Problem als solches überhaupt erst definieren zu können, besitzt der Staat hierfür rein theoretisch die technischen und finanziellen Mittel (siehe bspw. das genehmigte Projekt der
Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes- CENMA 2012). Aus unterschiedlichen Gründen, die teilweise weiter unten in dieser Arbeit aufgeführt werden (besonders in Kapitel
6 zu Pabellón), werden die Ergebnisse – mit Ausnahme von des Catástros de Relaves Mineros und einiger technischer Berichte des Sernageomin über den Zustand der Tailings (siehe etwa Sernageomin 2013, 2015, 2017, 2020) – nie veröffentlicht und auch keine weiteren Schritte zur Lösung der Schadstoffbelastung durch Tailings unternommen. In manchen Fällen sind die erstellten Berichte plötzlich einfach verschwunden, wie Jens Müller, ein ehemaliger Mitarbeiter des BGR, der an besagter Untersuchung mitgewirkt hat, in einem Interview erzählt. Die Ergebnisse der 2007 durchgeführten Studie seinen beispielsweise für den Staat „zu heiß“ gewesen (PW02, Ausführung in Kapitel
6). In anderen Fällen – wie beispielsweise bei der
Guía Metodológica des CENMA (2012) – wurde die Finanzierung inmitten der Forschungsarbeiten beendet. Auch die wenigen veröffentlichten staatlichen Untersuchungen sind nicht frei zugänglich, sondern nur auf eine offizielle Anforderung hin einsehbar. Zwar gibt es in Chile ein Transparenzgesetz (Ley de Transparencia
), das es jeder und jedem ermöglicht, die von staatlichen Behörden generierten Informationen zu konsultieren, allerdings muss dafür der genaue Name, Zeitpunkt und die AutorInnen der Untersuchung in einem Formular zur Anfrage der Besichtigung der Dokumente angegeben werden. Im Falle einer Zusage kann die zensierte Version der Untersuchung dann meist in der Hauptstadt Santiago unter Aufsicht begutachtet werden, ohne aber die Möglichkeit zu erhalten, diese Dokumente zu kopieren oder abzufotografieren. Ein solch kompliziertes Verfahren macht es den Betroffenen sehr schwer, selbst Zugang zu diesen Daten zu erhalten und verhindert in der Regel, dass entsprechende Personengruppen die Daten für rechtliche Zwecke oder als wissenschaftlichen Nachweis einer möglichen Verseuchung nutzen können.
Andere staatliche Akteure – wie etwa das Gesundheitsministerium – haben zwar teilweise Daten zum Verseuchungsgrad der BewohnerInnen eines bestimmten Gebiets, können diese allerdings nicht mit den nahegelegenen Tailings in Verbindung bringen: teilweise, weil sie ähnliche Probleme haben, wie die oben beschrieben unabhängigen und privaten Untersuchungen, teilweise weil sie gar nicht über die Existenz des Tailings informiert sind (ausführliche Darstellung in Kapitel
7). Die Epidemiologin Valentina Castillo (FS04), die im Regionalbüro des Gesundheitsministeriums in Copiapó arbeitet, hat zusammen mit einer Kollegin die Bevölkerung in der Region auch auf die Präsenz von Schwermetallen in deren Organismus untersucht. Dabei wurden teils stark erhöhte Blei-, Arsen- und Quecksilberkonzentrationen in den Stichproben gefunden. Die Ergebnisse wurden allerdings nicht veröffentlicht und in den besten Fällen wurde lediglich eine Nachverfolgung der Werte der Betroffenen durchgeführt. Die Erweiterung der Stichprobe in Fällen wie Nantoco oder Tierra Amarilla, die besonders hohe Werte aufwiesen oder Maßnahmen zur Behebung der Kontamination blieben gänzlich aus. Das größte Problem sei einerseits die fehlende Finanzierung für kostspielige Untersuchungen, andererseits die fehlenden Umweltregulierungen und Richtwerte sowie generell fehlende Daten im Umweltbereich, so Castillo (FS04).
Verschärft wird die genannte Problematik des Mangels an klaren Informationen und Normen durch Missstände im Bereich der staatlichen Institutionen, die in dieser Arbeit unter dem Begriff der
toxischen Institutionalität gefasst werden. Die weitgehend ausbleibende Kommunikation zwischen den unterschiedlichen staatlichen Behörden, sowie fehlende Klarheit über die Befugnisse und Zuständigkeiten anderer Behörden, sind Probleme, die mir entlang der gesamten Forschungsarbeit sehr oft begegnet sind. Jede Behörde macht ihre eigenen Messungen und Kataster. Teilweise entstehen diese doppelt, sie greifen nicht auf bereits vorhandene Informationen zurück oder können die Daten nicht vergleichen, weil unterschiedliche Richtwerte genutzt werden oder eine fachliche Übersetzung fehlt. Das Umweltministerium etwa berücksichtigte bei der Durchführung der oben beschriebenen, großangelegten Untersuchung weder die demografischen Daten des Ministeriums für soziale Entwicklung und Familie oder der Gemeinde noch die bereits durchgeführten Studien, die der Sernageomin zusammen mit der BGR erstellte, noch die Veröffentlichungen unabhängiger Wissenschaftler der Universidad Atacama wie Cristobal Valenzuela (PW01). Als Folge hatten sie in einem internen Bericht bspw. vermerkt, dass es in Pabellón keine AnwohnerInnen gäbe, was keineswegs der Fall ist (siehe Fall Pabellón Kapitel
6). MitarbeiterInnen des Gesundheitsministeriums wie Valentina Castillo (FS04) beklagen sich wiederum über die mangelnde Zusammenarbeit mit dem Umwelt- und dem Bergbauministerium. Ihnen würden dadurch jegliche technischen Daten zur Zusammensetzung der Tailings an den untersuchten Orten fehlen. Auch die Möglichkeit einer Intervention sei unter diesen Bedingungen für ihre Behörde allein unmöglich, so Castillo (PF04). Eine ähnliche Situation beschreibt auch Willy Mayor (PS10) des Sernageomin und auch andere Behörden verfügen nicht über relevante Informationen bezüglich der Bergbauaktivitäten und Tailings. Italo Pascual (PS03), ein Mitarbeiter des Regionalbüros des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtplanung, erzählt in einem Interview, in Tierra Amarilla würden gerade Sozialbauten auf Tailings entstehen. Neben der Tatsache, dass die Tailings an sich gefährlich sind, lägen sie zudem in einem einsturzgefährdeten Gebiet, da sich die Tunnelanlagen des Bergwerks Candelaria dort befänden. Er habe dies privat nachrecherchiert, da er aus Tierra Amarilla stamme. Sein Hinweis wurde allerdings „von oben abgewunken“. Das Projekt sei schon bewilligt wurde ihm damals gesagt (PS03). Etwas ähnliches geschah nach den Überschwemmungen bei der Errichtung von Sozialbauten in Nantoco. Die fehlende Kommunikation zwischen den Behörden behindert die Weitergabe von Wissen erheblich, wodurch oftmals doppelte Arbeit geleistet wird und auf diese Weise finanzielle und personelle Ressourcen verloren gehen. Vor allem können allerdings auch schwerwiegende Risiken, wie im Fall von Tierra Amarilla, übersehen werden.