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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Forschungsgegenstand: Der chilenische Bergbau und die schleichende Gewalt seiner Hinterlassenschaften

verfasst von : Anna Landherr

Erschienen in: Die unsichtbaren Folgen des Extraktivismus

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Im Folgenden werden zuerst das chilenische Wirtschaftsmodell, seine neoliberale und extraktivistische Ausrichtung sowie seine sozial-ökologischen Konsequenzen dargestellt. Anschließend wird ausführlich die Rolle des Bergbaus in diesem Kontext dargelegt und auf die, durch diesen bedingte, Produktion großer Mengen an Tailings eingegangen, die die in dieser Forschung untersuchten slow violence Phänomene verursachen, um mit einem ersten Zwischenfazit zu enden. Anschließend werden kurz die Region Atacama, sowie die drei dieser Arbeit zugrundeliegenden Fallstudien vorgestellt.
Im Folgenden werden zuerst das chilenische Wirtschaftsmodell, seine neoliberale und extraktivistische Ausrichtung (Abschnitt 5.1) sowie seine sozial-ökologischen Konsequenzen dargestellt. Anschließend wird ausführlich die Rolle des Bergbaus in diesem Kontext dargelegt (Abschnitt 5.2) und auf die, durch diesen bedingte, Produktion großer Mengen an Tailings eingegangen, die die in dieser Forschung untersuchten slow violence Phänomene verursachen (Abschnitt 5.3), um mit einem ersten Zwischenfazit zu enden (Abschnitt 5.4). Anschließend werden kurz die Region Atacama, sowie die drei dieser Arbeit zugrundeliegenden Fallstudien vorgestellt (Abschnitt 5.5).1

5.1 Das chilenische neoliberal extraktivistische (Wirtschafts-)Modell

Die chilenische Wirtschaft ist durch eine extraktivistische und neoliberale Ausrichtung gekennzeichnet (Gárete 2016; Fischer 2007; Landherr, Graf & Puk 2019; Pizarro 2020). Den Extraktivismus als Basis der nationalen Ökonomie und mit ihm die starke Abhängigkeit und Orientierung an der Nachfrage von Rohstoffen auf dem Weltmarkt teilt Chile mit fast allen Ländern Lateinamerikas sowie vielen der Länder des sogenannten globalen Südens. Der Export von Primärgütern machte zuletzt 86 Prozent (2019) der gesamten Ausfuhren Chiles aus (CEPAL 2021: 44). Die starke neoliberale Ausrichtung ist wiederum ein Erbe der Militärdiktatur unter der das „neoliberale Experiment“ ein- und durchgeführt wurde, was – wie ich im Folgenden ausführen werde – eine starke Kommodifizierung und Privatisierung so gut wie aller verfügbaren natürlichen und menschlichen Ressourcen sowie wirtschaftlichen Sektoren zur Folge hatte (Habersang 2016:139) und einen schlanken „abwesenden“ Staat hervorgebracht hat (Gudynas 2011: 386). Die Kombination dieser beiden Aspekte führt – wie im Weiteren deutlich wird – dazu, dass vorwiegend private Akteure2 – in den meisten Fällen große transnationale Unternehmen – den Abbau und Export von Rohstoffen dominieren, während es kaum zur Umverteilung der daraus resultierenden Erträge an die Bevölkerung kommt (Landherr 2018). Letztere können im besten Fall durch einen der wenigen oftmals prekären Arbeitsplätze in den extraktiven Sektoren einen kleinen persönlichen Vorteil ziehen (Arboleda 2020: 75 ff.; Landherr & Graf 2021). Die Mehrheit der lokalen Bevölkerung bleibt jedoch vor allem auf den ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten sitzen, die der Bergbau vor Ort verursacht (Svampa 2019). Dennoch gilt besonders der Bergbau im öffentlichen Diskurs weiterhin als „Motor der chilenischen Wirtschaft“3 und als einziger Weg um sich von der „Unterentwicklung“ zu befreien und in die ersehnte Reihe der „entwickelten“ Länder einzureihen. Die dabei entstehenden sozial-ökologischen Kosten werden als notwendiges Opfer für eine vermeintlich bessere Zukunft dargestellt. Im folgenden Kapitel werde ich in einem ersten Schritt auf die Grundmerkmale und oben genannten Besonderheiten des chilenischen (Wirtschafts-)Modells eingehen, die aus ihm resultierenden derzeitigen Konflikte beschreiben und die Kernelemente, die zu seiner bisherigen Aufrechterhaltung beitragen, darstellen, um in einem zweiten Schritt auf die Rolle des Bergbaus, seinen sozialen, ökonomischen und ökologischen Kosten und Grenzen sowie spezifisch auf das Problem der Tailings und die bestehende Regulierung dieser einzugehen.

5.1.1 Schocktherapie: Die Einführung des Neoliberalismus in Chile

Der Ursprung dessen, was später als „chilenisches Experiment“ oder „neoliberales Experiment“ bekannt wurde, liegt in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die besitzende Klasse Chiles verzeichnete zu dieser Zeit aufgrund einer Reihe an politischen und legalen Veränderungen, wie etwa den Agrarreformen oder der chilenización des Kupfers4 sowie erstarkenden popularen Bewegungen und der zunehmenden Bedeutung linker Kräfte in der Politik einen Rückgang ihrer Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen (Bustos 1987: 68 ff.; Salazar 2017: 192 ff.). Doch auch die Entwicklungen im Ausland, allen voran die Kubanische Revolution von 1959, machte der besitzenden Klasse Chiles Sorgen. Diese Sorgen teilten wiederum insbesondere die Regierungen der USA, die angesichts der damaligen politischen Entwicklungen in Lateinamerika ihre Einflussnahme in der Region gefährdet sahen. Vor diesem Hintergrund gewann das 1955 initiierte Projekt zur organisierten ideologischen Unterwanderung5 an Bedeutung, das die Verbreitung der neoliberalen Ideen von Friedrich Hayek und besonders von Milton Friedman verfolgte und zur ideologischen Homogenisierung der chilenischen politischen und ökonomischen Führungskräfte beitrug (Fuentes 2021; Klein 2007; Muñoz 2002:8). In Chile selbst nahmen die Entwicklungen allerdings erstmal einen entgegengesetzten Lauf. 1970 wurde Salvador Allende als erster sozialistischer Präsident gewählt und mit ihm kam es zur Verstaatlichung der strategischen Produktions- und Industriesektoren, einer Reihe von Reformen, die die Arbeits- und (Land)Besitzverhältnisse veränderten und somit auch eine neue politische Klasse an die Macht, die aus der nationalen Mittelschicht hervortrat. Die radikalen ökonomischen Veränderungen und der wachsende Macht- und Kontrollverlust der großen Unternehmen in Chile, der mit der Regierung Allende einherging, war neben der politischen Polarisierung im Kalten Krieg der Hauptgrund für die Intervention des US-Amerikanischen Staates6 unter Richard Nixon und der CIA. Sie verfolgten das Ziel, einen Regimewechsel in Chile zu erzwingen. Dies geschah 1973 durch den Militärputsch, der eine sechzehnjährige Militärdiktatur unter Augusto Pinochet zur Folge hatte. Nach kurzer Zeit wurden die in den 1950er und 1960er Jahren in Chicago ausgebildeten chilenischen Ökonomen – die sogenannten Chicago Boys7- zu den engsten Vertrauten und Beratern des Diktators und mit ihnen erlangten die ökonomisch dominanten Familien der besitzenden Klasse ihre Einflussmacht zurück. Die Vertreter Friedmans nahmen die wichtigsten Positionen in den Ministerien ein und begannen von dort aus, das Wirtschaftsmodell komplett umzustrukturieren (Gárete 2016: 181 ff.). In einem schnellen (konter-) „revolutionären“ Prozess (Fuentes 2021:63 ff.; Graf & Landherr 2023), den Naomi Klein (2007) als „shock doctrine“ beschrieb und Friedman selbst als „Schocktherapie“ bezeichnete, wurde von ihnen ausgehend das neoliberale Experiment durchgeführt, das bis heute die Grundbausteine des chilenischen Akkumulationsmodells, die extraktivistische Ausrichtung und die Reichtums- und Machtkonzentration des Landes bestimmt (Fischer 2007). Die wichtigsten Maßnahmen der neoliberalen Umstrukturierung waren auf wirtschaftlicher Ebene die (Re-)Privatisierung der staatlichen Unternehmen, die Deregulierung der Wirtschaft, die Öffnung und Transnationalisierung der Märkte sowie die Schaffung von Investitionsanreizen für ausländisches Kapitel (etwa durch den decreto-ley 600/74) (Habersang 2016:139). Die größtenteils deregulierten Märkte werden bis heute von einem schlanken, zentralisierten Staat begleitet, der sich aus einem Großteil seiner früheren Zuständigkeiten zurückgezogen und diese an private Akteure übertragen hat. Der dadurch entstandene Estado subsidiario wird vorwiegend nur in jenen Bereichen aktiv, die private Akteure nicht übernehmen können oder wollen (Pizarro 2020: 343; Gudynas 2011: 386). Als Konsequenz gilt der chilenische Staat besonders auf lokaler Ebene und in den peripheren Regionen des Landes als ein abwesender Staat (Landherr & Graf 2021).
Der wichtigste Grundstein für das bis heute bestehende neoliberale Wirtschaftsmodell ist die von 1980 stammende Verfassung, die auch nach dem Militärregime nur eine „begrenzte“ und „geschützte“ Demokratie vorsieht (Bustos 1987; Fischer 2011: 125). Dieselbe Verfassung besteht – mit einigen Reformen – bis heute.8 In der Phase der Transition zur Demokratie, die nach dem Prinzip der Demokratie der Übereinkommen vollzogen wurde, wurden in einer längeren Übergangszeit Pakte zwischen der neuen demokratisch gewählten Regierung und dem diktatorialen Regime abgeschlossen, die eine Weiterführung vieler zentraler Elemente der Militärdiktatur und die Fortführung und Vertiefung des neoliberalen Modells zu Folge hatten (Gárete 2016: 347 ff.; Kaltmeier 2004:181).9 Auf diese Weise konnte die besitzende Klasse Chiles ihre wirtschaftlichen Interessen und ihren Einfluss auf die zentralen Entscheidungszentren des Staates (u. a. Finanzministerium und Zentralbank) institutionalisieren. Als Konsequenz konzentriert sich Vermögen und Einkommen aus der Finanzbranche, dem Handel, der extraktiven und nicht-extraktiven produktiven Sektoren sowie der Landwirtschaft genauso wie das Eigentum an Grund und Boden, Wasser und Energie in wenigen Händen (Pizarro 2020: 340). Gleichzeitig ist die besitzende Klasse mit der politisch herrschenden Klasse des Landes weitgehend deckungsgleich (ausführliche Ausführung in: Landherr & Graf 2017: 578 ff.).10 Ausländisches Kapital, das besonders auch im Bergbau aktiv ist, erfreut sich einer Reihe von Investitionsanreizen in der „liberalsten Ökonomie Lateinamerikas“ (Heritage Foundation 2016). Die neoliberale Ausrichtung ist dabei durch insgesamt 29 Freihandelsabkommen mit über 65 Ländern abgesichert, was das Land zu der offensten Wirtschaft der Region macht (Barriga et al. 2022).11 Während das neoliberale Modell, die bestehende Verfassung und die aktuelle Gesetzlage das staatliche Kontrollbefugnis über nationale Ressourcen und Territorien erheblich einschränkt (Habersang 2016:139), sind eben diese im chilenischen Fall für die globale Wirtschaft in bisher unbekanntem Ausmaß verfügbar (ebd.: 141). Diese Freihandelsabkommen nutzen vorwiegend Großunternehmen, während kleinere Unternehmen und ArbeitnehmerInnen durch sie unter stärkerem Wettbewerbsdruck leiden und sie gleichzeitig die sozialen und ökologischen Kosten des internationalen Handels ausblenden (siehe Fuchs 2014 in Habersang 2016:141).

5.1.2 Die Sozialstruktur des chilenischen Neoliberalismus: Machtkonzentration, Ungleichheit und hierarchischer Kapitalismus

Die Reichen in Chile sind so reich
wie die Reichen in Deutschland,
während die Armen so wenig haben
wie die Armen in der Mongolei.
(Branco Milanović)12
Das chilenische Modell hat die Schere zwischen Arm und Reich enorm vertieft und eine starke Konzentration an Reichtum, Macht und Zugang zu Ressourcen hervorgebracht. Chile ist das OECD-Mitglied mit der ungleichsten Einkommensverteilung, wobei sich das Einkommen vor allem bei einigen wenigen Superreichen konzentriert. Auf diese Weise entfallen auf das reichste ein Prozent der Bevölkerung 30 Prozent des Nationaleinkommens und auf die reichsten 0,01 Prozent über zehn Prozent (López et al. 2013:28 f.). Die Verteilung innerhalb des obersten Perzentils miteinbeziehend führt Chile die Rangliste der Ungleichheit weltweit an (ebd.; Matamala 2015:27). Diese Tendenz hat sich während der Pandemie noch weiter zugespitzt und 2022 konzentriert das reichste ein Prozent sogar 49,6 Prozent des chilenischen Einkommens (Chancel et al. 2022). Laut der Comisión Económica para América Latina y El Caribe (CEPAL) ist die Reichtumskonzentration der Ultrareichen (die im Besitz von mehr als einer Milliarde US-Dollar sind) in Chile die höchste Lateinamerikas.13 Unter den 2755 Ultrareichen weltweit sind neun ChilenInnen, die im Besitz eins persönlichen Eigentums sind, das 16,1 Prozent des chilenischen BIPs entspricht.14 Unter ihnen ist auch der bis Anfang 2022 amtierende rechtskonservative Präsident Sebastián Piñera. Die kleine Gruppe der Superreichen – die oben beschriebenen 0,01 Prozent – werden wiederum auf nicht mehr als 500 Haushalte geschätzt (Matamala 2015:27 f.), die ihren Reichtum aus Familienunternehmen schöpfen, die wiederum meist weit gefächert in den unterschiedlichsten wirtschaftlich relevanten Sektoren des Landes tätig sind. Auf diese Familienunternehmen und Grupos Económicos entfallen zwei Drittel der chilenischen Umsätze sowie 95 Prozent der Exporte (Fischer 2011:150). Werden diese Haushalte und Unternehmen in Beziehung zueinander gesetzt, kommen ForscherInnen auf knapp zwanzig traditionell in Politik und Wirtschaft verankerte Familien, die die chilenische Wirtschaft dominieren und großen Einfluss auf die Politik nehmen (Matamala 2015:28 f.; Fischer 2011: 150 ff.). Die relevanten nationalen Märkte werden allesamt von einer geringen Zahl an Unternehmen in Form von Oligopolen und Monopolen dominiert (Matamala 2015: 30; Garín 2017). Diese Unternehmen haben starken Einfluss auf die Markpreise und kontrollieren teilweise ganze Produktionsnetzwerke. Dabei stehen sie oftmals in einem kooperativen Verhältnis zum transnationalen Kapital, wobei gemeinsame Investitionen15 (etwa in große Megaprojekte) getätigt werden und letztere durchaus auch direkt intervenieren und etwa an Preisabsprachen teilnehmen. Diese Form des „hierarchischen Kapitalismus“ (Schneider 2013) trägt zu einer hohen strukturellen Macht weniger ökonomischer Akteure bei.
Die sozioökonomische Ungleichheit der chilenischen Gesellschaft wird durch prekäre Arbeitsverhältnisse verstärkt. Die große Mehrheit der chilenischen Bevölkerung bezieht ihr Einkommen aus Tätigkeiten auf Arbeitsmärkten, die durch unqualifizierte Beschäftigung, kurzfristige Verträge, eine geringe Bindung an den Arbeitgeber sowie einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad16 gekennzeichnet sind. Begleitet werden diese formellen Arbeitsmärkte durch einen großen informellen Arbeitsmarkt, dessen reales Ausmaß sich statistisch nicht fassen lässt. Laut einer Studie des Arbeitsministeriums arbeiten 47,3 Prozent in irgendeiner Weise informell (Díaz & Gálvez 2015: 27). ExpertInnen gehen allerdings von einer höheren Zahl aus, als sie die Studien erfassen. Über 37 Prozent der Beschäftigten in Chile arbeiten darüber hinaus als Selbstständige oder in sogenannten Mikrounternehmen mit weniger als zehn MitarbeiterInnen (Gobierno de Chile 2018). Prekäre Arbeitsverhältnisse (Zeitverträge, Honorarverträge), Outsourcing und niedrige Löhne sind selbst im öffentlichen Sektor weit verbreitet. Der chilenische Mindestlohn liegt derzeit umgerechnet bei 355 Euro.17 Mehr als die Hälfte der Beschäftigten verdient monatlich umgerechnet unter 440 Euro. Damit lebt ein Großteil der Familien unter der Armutsgrenze (Durán & Kremerman 2021). Die hohen Lebenshaltungskosten sowie die generell prekären Arbeitsverhältnisse führen dazu, dass Haushalte und Einzelpersonen mehreren Erwerbstätigkeiten sowohl auf dem formellen als auch auf dem informellen Arbeitsmarkt nachgehen. Auf dem Land spielt wiederum kleinbäuerliche Land- und Subsistenzwirtschaft noch eine große Rolle.
Während die besitzende Klasse und ein privilegierter Anteil der arbeitenden Bevölkerung (darunter auch teilweise die Festbeschäftigten im Bergbau) Zugang zu qualitativ hochwertigen privaten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen haben, ist die Mehrheit der Bevölkerung aus Kostengründen auf das öffentliche bzw. privat-subventionierte Bildungs- und Gesundheitssystem angewiesen. Der chilenische neoliberale Staat ist ein schlanker, abwesender Staat, wenn es um die soziale Grundversorgung der Bevölkerung geht. Er zieht sich aus allen Bereichen, die für den Markt attraktiv erscheinen, zurück und greift nur dann ein, wenn eine bestimmte Dienstleistung nicht vom Markt abgedeckt werden kann (Pizarro 2020: 343). So kommt es, dass in Chile gute und teure private Gesundheits- und Bildungssysteme neben schlechten, staatlichen, aber preiswerteren Alternativen koexistieren. Chile ist weltweit unter den führenden Ländern, in denen die Menschen die größten Teile ihres Einkommens für Bildung und Gesundheit ausgeben müssen. Es ist außerdem das Land mit den relativ zum Durchschnittseinkommen weltweit höchsten Studiengebühren hinter den USA.18
Zur gesellschaftlichen Ungleichheit trägt auch das Rentensystem bei, das unter Pinochet auf ein Kapitaldeckungsverfahren19 umgestellt und somit gänzlich privatisiert wurde. Die Einzahlung in das private Rentensystem der Administradoras de Fondos de Pensiones (AFPs) ist für alle Arbeitenden gesetzlich vorgeschrieben20 und wird von großen Unternehmen als Spekulations- und Investitionsfonds verwaltet. Die Rentenfonds verwalten aktuell Gelder im Wert von 75 Prozent des chilenischen Bruttoinlandprodukts (Gálvez & Kremerman 2019)21. Die Nutznießer dieses Systems sind vorwiegend die Rentenfonds (AFPs) selbst, deren Gewinne 2019 erneut um 59 Prozent gestiegen sind (ebd.) sowie die großen Familienkonglomerate, denen dadurch andauernde frische Finanzierung ihrer Investitionen gewährleistet wird. Gleichzeitig ist Altersarmut derzeit eine weitverbreitete Realität in Chile. Im Durchschnitt erhielten die ChilenInnen im Jahr 2019 – in einem Land mit ähnlich hohen Lebenshaltungskosten wie Deutschland – eine Rente von umgerechnet 288 Euro.22 Bei 90 Prozent der ArbeiterInnen liegt die Rente sogar unter 178 Euro und bei 60 Prozent der Frauen unter der Armutsgrenze (Gálvez & Kremerman 2021). ArbeiterInnen im informellen Bereich zahlen zudem nicht in das Rentensystem ein, erhalten kein Arbeitslosengeld und beziehen lediglich eine sogenannte Solidaritätsrente, die umgerechnet nur 50 Cent über der individuellen Armutsgrenze liegt (ebd.).
All das trägt wesentlich zur enormen Verschuldung der Mehrheit der ChilenInnen bei: Laut einer Studie der Universität San Sebastián sind über 80 Prozent der über 18-Jährigen in Chile verschuldet, dies sind insgesamt über 11 Millionen SchuldnerInnen von einer Gesamtbevölkerung von 19,1 Millionen. Von diesen sind 4,5 Millionen zahlungsunfähig – Tendenz steigend.23 Der Anteil der Schuldentilgung am Privateinkommen der Haushalte ist mit 38 Prozent der höchste der OECD-Länder. 50 Prozent der chilenischen Beschäftigten verdienen weniger als 412 Euro im Monat.24 Bei Letzteren liegt der Schuldentilgungsanteil an ihrem Einkommen sogar bei 45 Prozent. All dies trägt zu einer enormen Asymmetrie in einer weitgehend dem Markt unterworfenen Gesellschaft bei, die sich als „asymmetrische Kommodifizierung“ charakterisiert:
„Die hohe Verschuldung ist nicht nur ein lukratives Geschäft für die Banken, die ein weiteres Standbein der Familienkonglomerate sind, sie funktioniert auch als Disziplinierungsmechanismus der Beschäftigten. All dies geht folglich mit einer asymmetrischen Kommodifizierung einher, die für die einen hohe Einkommen, Stabilität und Kontrolle bedeutet und für die anderen zu Kaufkraftverlusten, Verlust an Kontrolle über gesellschaftliche Commons und Mitbestimmungsmöglichkeiten, Prekarität, Zwang zur Lohnarbeit, unter anderem durch die Enteignung von natürlichen Ressourcen und durch Schulden, führt.“ (Landherr & Graf 2017:574 f.)

5.1.3 Neoliberaler Extraktivismus: die private Aneignung der Natur

Der Export von Rohstoffen – im Besonderen von Metallen und Mineralien – stellt schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Basis der chilenischen Wirtschaft dar. Im Laufe der Jahrzehnte haben auch andere extraktivistische Sektoren an Bedeutung gewonnen, wodurch heutzutage neben dem Bergbau, die Forst-, Vieh- und Landwirtschaft sowie der Fischereisektor eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt stellen auf diese Weise nicht oder kaum weiterverarbeitete Primärgüter 86 Prozent (2019) (Banco Mundial 2015; CEPAL 2021: 44) der chilenischen Exporte dar. Die meisten von ihnen sind wenig arbeitsintensiv (und nur selten bieten sie formelle Festanstellungen in größerem Umfang), dafür aber umso ressourcenintensiver, was insbesondere an ihrem hohen Wasser- und Energieverbrauch liegt. Obwohl die damit einhergehenden tiefen Eingriffe in ökologische Kreisläufe schon jetzt teilweise die ökonomischen Grundlagen der chilenischen Gesellschaft untergraben und immer häufiger Engpässe in den Extraktions- und Produktionsprozessen durch fehlende Ressourcen vorkommen, bleibt die extraktivistische Ausrichtung der chilenischen Ökonomie fast unangefochten bestehen. Sogar nach dem Ende des Rohstoffbooms (Schmalz 2018b), der Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer starken Intensivierung der Ausbeutung der Natur geführt hatte (Gudynas 2012; Svampa 2011; Svampa 2015a:155 f.), bleibt in Chile – nach einem kurzen Einbruch der extraktivistischen Sektoren – eine Tendenz zur stetigen Vertiefung des Rohstoffabbaus und -exports bestehen (Landherr 2018).
In Kombination mit der neoliberalen Ausrichtung der Ökonomie ist in Chile – anders als in vielen Nachbarstaaten in denen sich der sogenannte Neoextraktivismus herausgebildet hat – ein konventioneller Extraktivimus (Svampa 2016:11) zu beobachten, der dadurch gekennzeichnet ist, dass vorwiegend private AkteurInnen und der Markt die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen innehaben. In Chile hat dies zu einer weitreichenden Konzentration von Ressourcen in den Händen weniger AkteurInnen geführt, wodurch diesen in weiten Teilen Chiles vor Ort eine umfassende territoriale Macht zukommt (Landherr & Graf 2021 und siehe Kapitel 7 Fall Tierra Amarilla). Die ökonomische Bedeutung der extraktivistischen Großunternehmen hat zugleich politische Konsequenzen, die in einem Bericht von Oxfam (2016a) als captura de la democracia (Beschlagnahme der Demokratie) bezeichnet wurden und ein weit verbreitetes Phänomen in Lateinamerika beschreiben. Gemeint ist dabei die Unterbindung demokratischer Prozesse und der Kontrollverlust staatlicher Institutionen über Land und Ressourcen, die sich wiederum stark konzentriert in den Händen weniger Unternehmen befinden. Diese Verflechtung von wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss hat in Chile ein besonderes Ausmaß angenommen.
Die Basis für die damit einhergehende private Aneignung der Natur wurde ebenfalls durch die Verfassung von 1980 gelegt und später als „Vorzeigemodell“ in andere Länder der Region exportiert (Machado 2010:11). Darauf aufbauend wurde eine Reihe von Gesetzen und Kodexen erlassen, die die Privatisierung der natürlichen Ressourcen ermöglicht und Unternehmen und private AkteurInnen vor staatlichen Eingriffen schützen und juristisch absichern (Bustos 1987; Bauer 1998). Im Bereich des Bergbaus ermöglichten das Bergbaugesetz (Código de Minería) von 1983 und vor allem das Gesetz zu Bergbaukonzessionen von 1982 (Ley Orgánica Constitucional 18.097/82) bis heute die kostenlose (und praktisch irreversible) Aneignung von chilenischem Untergrund durch private Unternehmen. Dabei ist Chile das einzige Land der Welt, in dem die Konzession, die Übergabe aller Rechte beinhaltet und der Staat die Unternehmen für jeden Eingriff entschädigen muss. Durch das Wassernutzungsgesetz (1981) wurden auch die chilenischen Gewässer kostenlos und lebenslang an Privatpersonen und Unternehmen vergeben und werden heute teuer auf nicht regulierten Märkten gehandelt (Bauer 1998: 32 ff.). Im Forstbereich wurden durch das Gesetz DL 701 vor allem die großen Monokulturen gefördert. Es garantierte den großen Unternehmen bis vor wenigen Jahren erhebliche staatliche Subventionen von 75 Prozent25 der Kosten beim Anlegen von Plantagen. Durch eine Reform im Agrarbereich wurden die 4.691 Großgrundbesitze, die unter Allende enteignet wurden, wieder zu Privateigentum einiger weniger Familien. Neben der Öffnung der nationalen Märkte und der Beseitigung der Handelsbarrieren boten das Gesetz für Auslandsinvestitionen26 und ein besonders weit gehendes (Privat-) Eigentumsrecht große Anreize für ausländische InvestorInnen. Ausbleibende Umweltregulierungen und die Flexibilisierung der Arbeitsgesetzgebung ebneten den Weg für die billige Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Arbeitskraft (siehe Landherr & Graf 2017: 575 f.; Landherr 2018:129 f.).
Die neoliberale Hegemonie in der chilenischen Politik und die extraktivistische Ausrichtung der chilenischen Ökonomie begünstigen sich folglich gegenseitig und sind in der Verfassung von 1980 festgeschrieben. Besonders relevant für die extraktiven und landwirtschaftlichen Sektoren ist die, schon erwähnte, Gesetzgebung bezüglich der Wasserressourcen. Chile ist das einzige Land der Welt, das den Zugang zu Wasser gänzlich privatisiert hat. Dabei wurde im Wasserkodex von 1981 rechtlich Wasser als ökonomisches Gut behandelt (Bauer 1998: 44 f., 51 ff.). Die vergebenen Wasserrechte sind zudem auch heute noch unbefristet und unkündbar. Dieser heute noch gültige Wasserkodex wurde 1981 in der Militärdiktatur erlassen und sieht eine Trennung von Landbesitz und Wassernutzungsrechten vor (ebd.: 32).27 Trotz einiger Reformversuche seit Ende der Diktatur bleibt der Kern des Wasserkodex aufgrund des starken Drucks der Lobby der Bergbau- und Landwirtschaftsunternehmen unberührt (ebd.: 51 f.).28 Wasserrechte, einst vom Staat kostenfrei vergeben, sind von unbegrenzter Zeitdauer und können nach Belieben unter privaten AkteurInnen gehandelt werden. Mit der umfassenden Kommodifizierung geht eine große Konzentration der Zugangs- und Nutzungsrechte des Wassers einher. Dabei werden die Wasserrechte in Konsumrechte (das Wasser wird durch den Nutzungsprozess verbraucht) und Nutzungsrechte (das Wasser wird nach der Nutzung größtenteils wieder in die Wasserkreisläufe zurückgeleitet) unterteilt. 90 Prozent der landesweiten Konsumrechte sind heutzutage vergeben und größtenteils in Händen großer Exportunternehmen der Landwirtschaft und des Bergbaus. 100 Prozent der Nutzungsrechte gehören wiederum transnationalen Energiekonzernen (Mundaca 2012). Der spanische Energiekonzern ENDESA allein besitzt 80 Prozent dieser Nutzungsrechte. Während Wasserrechte zwar generell in ein Register der DGA eingetragen werden müssen, gibt es keinen Abgleich mit der konkreten Wasserverfügbarkeit vor Ort, keine Regulierung der Nutzungsüberschneidung oder Quellenübernutzung und kaum staatliche Kontrollmechanismen (Landherr, Graf & Puk 2019:83). So kam es beispielsweise in der Stadt Coronel zu einer 4.594 prozentigen Übernutzung der Wasservorkommen (Guerrero & Cifuentes 2013). Zudem stellt der Bergbausektor einen rechtlichen Sonderfall dar: Wird Wasser bei Abbauarbeiten in Bergbaukonzessionen entdeckt, so gehört es der Person oder dem Unternehmen, die bzw. das es findet. Ein Register solcher als aguas del minero bekannter Wasservorkommen existiert ebenso wenig wie eine staatliche Kontrolle darüber, was mit diesen Wasservorkommen geschieht (Landherr, Graf & Puk 2019:83). Wasserrechte werden wiederum auf nicht regulierten Märkten teilweise sehr teuer gehandelt. Durch die Knappheit der Ressource besonders in den nördlichen Regionen des Landes, in denen es gleichzeitig eine hohe Nachfrage – besonders seitens der Landwirtschaft und des Bergbaus – gibt, ist sie zu einem begehrten Spekulationsobjekt geworden. Bis zu 68 Millionen chilenische Pesos (etwa 90.600 Euro) kann das Recht auf einen Liter Wasser pro Sekunde auf digitalen Plattformen wie www.​compragua.​cl kosten. Der Staat hat aufgrund der neoliberalen Regulierung keinen Zugriff auf diese grundlegende natürliche Ressource des Landes, von der alle Wirtschaftssektoren sowie die gesamte Gesellschaft abhängig sind. Mit der Privatisierung trat der Staat nicht nur öffentliches Eigentum, sondern auch fundamentale Interventionsmöglichkeiten in wasserbezogenen Krisensituationen ab (Landherr, Graf & Puk 2019: 83). Neuerdings sehen sich die Behörden daher gezwungen, Wasserrechte teuer zurückzukaufen, um die lokale Bevölkerung versorgen zu können. Insbesondere im Norden, der durch den Bergbau gekennzeichnet ist, kommt es zunehmend zu großen Verteilungskonflikten.
Zur Aneignung des Bodens und Untergrunds durch den für die chilenische Wirtschaft zentralen Bergbausektor – auf die ich unten ausführlich und gesondert eingehe (siehe Abschnitt 5.2) – kommt die Ausbeutung im Agrikultur-, Forst- und Fischereisektor. In den fruchtbaren Tälern der trockenen, zentralen Regionen Chiles werden u. a. große Mengen an Trauben für den Export von Wein und Tafeltrauben angepflanzt. Der Export der beiden Produkte macht etwa 5,6 Prozent des gesamten chilenischen Exportvolumens aus (2015).29 Der Forstsektor konzentriert sich hingegen auf südlich gelegene Gebiete. Dort beanspruchen die Monokulturen der Forstplantagen einen großen Teil der Nutzfläche des Bundesstaates, die mit der traditionellen Landwirtschaft und vor allem der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft konkurrieren. Die Produkte des Forstsektors machen heute etwa 8,6 Prozent der chilenischen Exporte aus.30 Im Wesentlichen dominieren zwei chilenische Großunternehmen der Familien Matte und Angelini den Sektor (Graf 2019). Zusammen mit dem drittgrößten Unternehmen Masisa kontrollieren die drei größten Forstunternehmen 67 Prozent der gesamten forstwirtschaftlichen Plantagenfläche in Chile (UdeC 2009: 102). Die äußerst ungleiche und konfliktreiche Verteilung natürlicher Ressourcen gilt gleichermaßen für den Fischereisektor. Sieben Familien vereinen heute 85 Prozent der Fangquoten (Matamala 2015: 316, 319 f.). Wie im Forstbereich dominiert hier die Gruppe Angelini das Geschäft. Insgesamt machen die vier beschriebenen Sektoren 70–80 Prozent der chilenischen Exporte aus. Nach einer Oxfam-Studie ist Chile eines der Länder mit der ungleichsten Landverteilung des Kontinents: Mehr als 70 Prozent des produktiv genutzten Bodens gehört dem einen Prozent mit dem größten Landbesitz (Oxfam 2016a: 25). All dies führt zu einer starken Konzentration territorialer Macht bei einer relativ kleinen Gruppe an AkteurInnen der besitzenden Klasse sowie zur Zentralisierung der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen des Landes.
Begleitet wird die starke Kommodifizierung natürlicher Ressourcen von dem Argument, die Konzentration auf den Export von Rohstoffen würde für Chile einen Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt darstellen. Die extraktiven Industrien – allen voran der Bergbau – als „Wirtschaftsmotor“ Chiles, werden als Entwicklungsweg hin zum Fortschritt, den die „Länder der ersten Welt“ vorleben, dargestellt31. Dafür wird die Natur im hegemonialen Diskurs als frei zur Verfügung stehender Ressourcenkorb dargestellt, der von den Menschen genutzt werden muss. Chile sei schon immer ein „país minero“ (übers.: Bergbauland) gewesen, heißt es auf den offiziellen Seiten der Unternehmerverbände.32 Der von den extraktiven Industrien propagierte Umgang mit der Natur lässt sich eindrucksvoll am Wasserbeispiel zeigen. So hat sich in Chile die Vorstellung breit gemacht, dass das Wasser, das durch die Flüsse ins Meer fließt, „verloren geht“.33 Dies wird auch von PolitikerInnen immer wieder betont, der ehemalige Landwirtschaftsminister Luis Mayol sagte 2015 etwa, es gäbe keine wahre Wasserknappheit in Chile, das Problem liege allein darin, dass „84 Prozent des Wassers in Chile im Meer verloren geht“. Er fügt hinzu, dass wenn nur 50 Prozent dieses Wasser genutzt würde, weitere fünf Millionen Hektar bewässert werden könnten.34 Seitdem sind unzählige Zeitungsartikel zu dieser „Problematik“ erschienen. Dies ist ein klares Beispiel einer rein produktivistischen, instrumentellen und mechanistischen Auffassung der Natur, die für natürliche Kreisläufe und Ökosysteme als lebendiges und zusammenhängendes Ganzes blind ist und stattdessen einzelne Bestandteile als potenzielle Profitquelle sieht (Merchant 1987; Mies & Shiva 2016; de Sousa Santos 2010). Der chilenische Neoliberalismus ist folglich durch eine umfassende Privatisierung und Kommodifizierung der ökologischen Ressourcen gekennzeichnet, was die extraktivistische Grundausrichtung seiner Wirtschaft sowie die Konzentration des Reichtums bei einer kleinen besitzenden Klasse begünstigt.

5.1.4 Sozial-ökologische Konsequenzen des chilenischen Modells

In Chile zeigen sich die sozial-ökologischen Konsequenzen des Extraktivismus in Kombination mit den voranschreitenden – durch den Klimawandel bedingten – Veränderungen in den letzten Jahren sehr deutlich. Naturkatastrophen sind in Chile üblich, in den letzten Jahren häufen sich allerdings jene Umweltprobleme, die unmittelbar auf menschliche Aktivitäten und im Besonderen auf die extensiven Ressourcen(über)nutzung durch die extraktiven Wirtschaftssektoren zurückzuführen sind. Besonders präsent in der öffentlichen Wahrnehmung ist das Voranschreiten der Wüste im Norden, die Verlängerung der Dürreperioden im Zentrum, das Verschwinden der natürlichen Vegetation sowie die Austrocknung ganzer Flüsse und Seen verbunden mit allgemeinem Wassermangel im ganzen Land, die wiederum zu großflächigen Waldbränden im Süden und neuen Extremwetterphänomenen wie Überschwemmungen im Norden des Landes führen (World Bank Group 2021). Hinzu kommen ökosystemische Veränderungen im Wasserkreislauf, im Meer und in den Wäldern, die Episoden massiven Fisch- und Artensterbens verursachen sowie das Schmelzen der Gletscher im Süden des Landes. Auch die Schadstoffbelastung ganzer Gebiete hat schwerwiegende gesundheitliche und ökologische Folgen, die nicht nur zu einer Verminderung der Lebensqualität der dort lebenden Bevölkerung führt, sondern oftmals zur gänzlichen Zerstörung ihrer Produktions- und Lebensgrundlagen (Ureta & Flores 2022).
Die sozio-ökologische Sackgasse, in der sich Chile heute befindet, zeigt sich am eindrucksvollsten an der drängenden Wasserknappheit.35 Laut World Resource Institute (2015) gehört Chile weltweit zu einem der vier Länder, die innerhalb der nächsten zwanzig Jahre am stärksten von Wassermangel betroffen sein werden (Maddocks et al. 2015). 96 Prozent des chilenischen Süßwassers werden allein in der Forst- und Landwirtschaft genutzt (Martínez et al. 2018). Der Landbevölkerung ist es verboten, Wasser aus den Flüssen zu entnehmen, wenn sie keine Nutzungsrechte besitzen, auch wenn diese durch ihr Grundstück verlaufen, während sich die extraktiven Industrien der Forstindustrie und allen voran der großangelegten Agrikultur und des Bergbaus den Großteil des Wassers angeeignet haben (Landherr, Graf & Puk 2019). Da die industrielle Produktion von dieser Ressource abhängt, wird mit Wasserrechten zu hohen Preisen spekuliert. Die zunehmende Knappheit an Wasser macht bäuerliche Produktionsweisen und ländliches Leben in vielen Fällen unmöglich. Die Verschmutzung belastet die Gesundheit einer großen Zahl der ChilenInnen und gefährdet – verstärkt durch den Klimawandel – die gesamte ökonomische Grundlage des Landes (Landherr & Graf 2017: 580). Dies führt bereits heute dazu, dass 400.000 Menschen in Chile von der Wasserversorgung über Tanklastwagen abhängig sind und 80 der 346 Kommunen des Landes über keinen Zugang zu Wasser verfügen (Figueroa 2017). 75 der 101 existierenden Wassereinzugsgebiete sind derzeit von Wasserknappheit betroffen (Velásquez 2018) und 70 Prozent der chilenischen Bevölkerung lebt in Gebieten, in denen der Niederschlag stetig abnimmt (La Tercera 2018). Das Thema Wasser erreichte in Chile in den vergangenen Jahren mediale und öffentliche Aufmerksamkeit. Unter dem Motto „agua es vida“ (Wasser ist Leben) oder „agua para los pueblos“ (Wasser für die Völker) mobilisieren sich seit Jahren Tausende Menschen in den landesweit stattfindenden „Marchas plurinacionales por el agua“ (plurinationale Demonstrationen für das Wasser). Zunehmende Dürren und der Rückgang der Gletscher haben das Thema in den letzten Jahren zusätzlich sichtbar gemacht.
Das neoliberal-extraktivistische chilenische Modell führt zu immer deutlicher werdenden ökologischen Schäden. Während die extraktivistischen Sektoren mittlerweile untereinander um die knapper werdenden essenziellen Ressourcen konkurrieren und dadurch sowohl die Übernutzung dieser Rohstoffe wie etwa Wasser und Böden, als auch Eingriffe in anderen Regionen des Landes, etwa durch die Errichtung von großen Energieprojekten ankurbeln, wird der Mehrheit der ChilenInnen der Zugang zu diesen Ressourcen verwehrt. Auf diese Weise werden nicht nur lokale Ökonomien vernichtet, sondern auch die lokale – oft ländliche –- Bevölkerung zur Verarmung oder Migration gezwungen (siehe Kapitel 6, 7 und 8 dieser Arbeit). Die extreme Kommodifizierung, Privatisierung und ungleiche Verteilung der natürlichen Ressourcen des Landes hat neben der Zuspitzung sozial-ökologischer Probleme gleichzeitig zu einer Einschränkung der staatlichen Handlungsmöglichkeiten geführt. Aufgrund der weitgehenden Privatisierung ökologischer Ressourcen und sozialer Infrastrukturen ist es dem Staat unter den jetzigen Bedingungen unmöglich, Probleme grundsätzlich zu beheben oder einen Ausgleich der verschiedenen Interessen herzustellen (siehe Landherr, Graf & Puk 2019: 81; Graf & Landherr 2020).

5.1.5 Der wachsende Widerstand gegen das Modell: Soziale Bewegungen, sozio-ökologische Konflikte und der estallido social von 2019

In den letzten 17 Jahren haben die ChilenInnen ihre Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Modell immer deutlicher geäußert. Besonders die hohen Lebenskosten durch teure und privatisierte Dienstleistungen, die fehlende soziale Absicherung, mangelhafte Sozialsysteme und schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen standen dabei schon immer im Mittelpunkt der Proteste. Die stetig wachsenden sozialen Bewegungen, die schließlich im Oktober 2019 mit dem estallido social (übersetzt: „soziale Explosion“) ihren Höhepunkt erreichten, haben schon 2006 mit den Schülerprotesten („el movimiento de los pinguinos“) begonnen, die schnell die Unterstützung der StudentInnen bekamen. Die Schüler- und Studentenbewegung forderte ein kostenloses und qualitativ hochwertiges Bildungssystem für alle ChilenInnen. 2011 erreichten diese Proteste einen ersten Höhepunkt (Somma 2012). Im gleichen Jahr kam es zu einer Reihe von Arbeitskämpfen: von gewerkschaftlich organisierten Streiks in großen, privaten Kupferminen, über Streiks im öffentlichen Dienst, bis hin zu anhaltenden Protesten der selbstständigen Fischer gegen die Privatisierung des Meeres und seiner Ressourcen sowie Streiks der Hafenarbeiter. Gleichzeitig erlangten einige emblematische sozial-ökologische Konflikte erstmals nationale Aufmerksamkeit, deren Anliegen auch von anderen sozialen Bewegungen mitgetragen wurden (der bekannteste Fall ist der Hydroaysens). Gleichzeitig flammte auch der historische Konflikt um Land, Autonomie und gegen die in ihren Gebieten tätige Forstindustrie erneut auf. Ab diesem Jahr kamen jährlich neue, große Protestbewegungen hinzu. Von besonderer Bedeutung waren die der öffentlich angestellten LehrerInnen, diejenigen gegen das bestehende Rentensystem (no + AfP), die auch ältere Menschen massenhaft mobilisierten und schon 2017 mehrmals Proteste mit über zwei Millionen Menschen organisierten, sowie die zahlenmäßig starke und breite feministische Bewegung der letzten Jahre, der sich Frauen aller Alters- und Beschäftigtengruppen anschlossen (Rozas & Maillet 2019). Obwohl die Oktoberrebellion 2019 als unvorhersehbare „plötzliche soziale Explosion“ beschrieben wurde, waren ihre Vorboten schon lange vorher präsent: immer breitere und größere soziale Bewegungen, eine wachsende Politisierung und Mobilisierung der chilenischen Bevölkerung und eine steigende Solidarität unter den verschiedenen Kämpfen (Sehnbruch & Donoso 2020). Nur ihre scheinbare Erfolgslosigkeit über lange Zeit gegenüber dem festverankerten System, gegen das sie sich wanden, ließ den estallido social als erstes plötzliches Knacken am Fundament des Modells wahrnehmen. Die Überraschung, die diese Aufstände für die politische und ökonomische Elite darstellte, erklären chilenische WissenschaftlerInnen mit einer tiefen sozialen Kluft zwischen ihnen und der einfachen chilenischen Bevölkerung.36 Erstere haben dabei so lange auf die Effektivität ihrer Machtressourcen zur Durchsetzung und Legitimation ihrer Interessen bauen können, dass den Interessen der Mehrheit der ChilenInnen keine – und falls doch, eine paternalistische – Relevanz beigemessen wurden. Trotz der jahrelangen Mobilisierungen schien eine Veränderung innerhalb des politischen Systems meist unmöglich (Landherr & Graf 2017). Auch das mitte-links Parteienbündnis Concertación por la Democracia, das 1990 nach der Militärdiktatur die meisten Regierungen stellte, duldete die Kontinuität des neoliberalen Systems nicht nur, sondern legitimierte und vertiefte es in vielerlei Hinsicht sogar (Moulian 2002; Fischer 2017: 188). Damit wurde die Legitimität der Parteipolitik und des politischen Systems als Ganzen untergraben. Eine Tendenz, die durch eine Reihe von späteren Korruptionsskandalen, die unter anderem auch die enge Beziehung zwischen der politischen und der ökonomischen Elite bestätigten (Matamala 2015; Fischer 2011; Landherr & Graf 2017) noch verstärkt wurde.
Dies erklärt auch teilweise die große Wut, die sich ab Oktober 2019 auf den Straßen Chiles zeigte. Alle bis dahin von den PolitikerInnen überhörten Forderungen kamen nun in einem gebündelten descontento general (übersetzt: „allgemeine Unzufriedenheit“) auf sie zurück. Die Forderungen waren nicht mehr auf reine Reformen beschränkt, sondern das Modell als solches wurde – und das nicht nur von einem kleinen mobilisierten Teil der Bevölkerung – als Ursache angeprangert. An den großen Protesten zwischen Oktober 2019 und April 2020 nahmen teilweise über vier Millionen ChilenInnen landesweit an einem einzigen Tag teil.37 Ein weit verbreiteter Slogan, lautete: „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“ (Original: no son 30 pesos sino 30 años). Er weist darauf hin, dass die Preiserhöhung des öffentlichen Transports, weswegen die Proteste im Oktober ursprünglich begonnen hatten, nebensächlich ist. Die Ursache wird in einem „demokratischen“ System gesehen, in dem der Neoliberalismus, die Interessen der besitzenden Klasse und ein „hierarchischer Kapitalismus“ (Schneider 2013) institutionalisiert sind und zusammen mit ihrem Herzstück, der bestehenden Verfassung von 1980, Erben der Militärdiktatur darstellten, die die Teilhabe und Mitbestimmung der Mehrheit der Bevölkerung behindern (Graf & Landherr 2020). Die stets steigenden Lebenshaltungskosten, die Verschuldung, die ökologische Zerstörung und die hohen Mieten, Bildungs- und Gesundheitskosten untergraben stetig städtische wie ländliche Lebensweisen. Diese Entwicklung reiht sich in eine Liste der erwähnten Unzufriedenheiten mit der sozialen Ungleichheit ein. Insbesondere die Lebenshaltungskosten, niedrige Renten und hohe Gesundheitskosten stellten in Umfragen immer wieder die Hauptgründe für die Teilnahme an Protesten dar.38 Die Prekarität geht mit einer propagierten individuellen Teilnahmemöglichkeit an der westlich geprägten Konsumwelt einher (Moulian 2002: 100 ff.), die sich für die Mehrheit der Bevölkerung als unfinanzierbar erweist und meist den Einstieg in eine aussichtslose Schuldenfalle mit sich bringt (Pizarro 2020: 335).
Das Gefühl des Scheiterns an der dominanten Produktions- und Lebensweise in Stadt und Land hat im Zuge der Proteste immer mehr einer kollektiven Wut Platz gemacht. Symbolisiert wurde dies unter anderem durch die Präsenz der überall verbreiteten Fahne der indigenen Mapuche (deren Name übersetzt „Menschen der Erde“ lautet),39 die für eine politisch nicht-kompromittierte, alternative Produktions- und Lebensweise steht und für eine lange Geschichte antikolonialer Kämpfe, die gleichzeitig sowohl antiimperialistisch und antikapitalistisch, als auch anti-extraktivistisch ist und somit die Verdichtung der Forderungen vieler ChilenInnen darstellt (Huenchumil 2019; Graf & Landherr 2020). Sie steht auch für ein anderes Verhältnis zwischen der Gesellschaft und der Natur, mit einer zyklischen Vorstellung von natürlichen Prozessen statt einem linearen Fortschritt sowie einem respektvollen Umgang mit der Natur von der die Menschen nur eines von vielen wichtigen Elemente darstellen.
Ein „environmentalism of the poor“ (Guha & Martínez Alier 1997; Martinez-Alier 2002) dieser Art lässt sich auch bei anderen sozial-ökologischen Konflikten beobachten. Derzeit bestehen laut offizieller Zahlen 127 aktive sozial-ökologische40 Konflikte in Chile.41 Im Laufe der Proteste und besonders ab der Oktoberrebellion von 2019 verbinden Themen wie Umweltzerstörung und -verschmutzung lokale sozial-ökologische Konflikte und Proteste des ländlichen „enviromentalism of the poor“ mit städtischen Ökologiebewegungen (Landherr & Graf 2019). Während gerade ökologische Probleme und die Anliegen der Betroffenen lange Zeit keinen Platz in den öffentlichen Debatten fanden, hat das Ausmaß und die Dramatik der ökologischen Zerstörung durch die extraktiven Industrien in Chile, die sich, verstärkt durch den Klimawandel, immer häufiger in Form von Wassermangel, Dürren oder Waldbränden, der irreversiblen Erosion und Vergiftung von Böden und Luft äußert, das Thema mittlerweile zu einem medial äußerst präsenten Gegenstand öffentlicher Debatten werden lassen (Graf & Landherr 2020). Immer wieder flammen in diesem Kontext auch territoriale Kämpfe auf, die sich auf die Kontrolle und den Zugang zu bestimmten Gebieten richten.

5.1.6 Stabilität durch Machtkonzentration

Wie unten für den Bergbausektor weiter ausgeführt wird und oben bereits angedeutet wurde, konzentrieren einige große Unternehmen und mit ihnen eine zahlenmäßig kleine besitzende Klasse Chiles eine erhebliche strukturelle und territoriale Macht, die aus dem Besitz über Produktionsmittel und der Kontrolle über natürliche Ressourcen und extraktive Gebiete hervorgeht.42 Diese durch das chilenische neoliberal extraktivistische Modell begünstigte Machtkonzentration wird zudem von weiteren Machtressourcen begleitet, die es der besitzenden Klasse ermöglicht, ihre Interessen nicht nur durchzusetzen, sondern auch politisch und gesellschaftlich zu legitimieren und die Kontinuität des bestehenden Akkumulationsmodells aufrechtzuerhalten. Diese wären einerseits die sich aus dem politischen und juristischen System Chiles ergebende institutionalisierte Macht, die hegemoniale Macht durch ihren großen Einfluss in den Medien und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite, sowie zuletzt die informelle Macht, die sich aus den informellen Kontakten und Netzwerken sowie der starken personellen Überschneidung der politischen und ökonomischen Elite ergibt.43 Ihre Interessen sind größtenteils deckungsgleich mit den Interessen des ausländischen Kapitals und den mächtigen Staaten des sog. globalen Nordens, die auf die Zufuhr von Ressourcen angewiesen sind und diese durch internationale Freihandelsabkommen absichern. Zusammen mit den Macht- und Herrschaftsverhältnissen des kapitalistischen Weltsystems, die den Erhalt von extraktivistischen Wirtschaftsmodellen in Ländern wie Chile befördern, kann die besitzende Klasse des Landes durch den Einsatz ihrer Machtressourcen bisweilen das chilenische Modell (noch) aufrechterhalten, obwohl dieses immer häufiger und deutlicher an seine sozialen, ökonomischen und ökologischen Grenzen stößt (Landherr & Graf 2017; Landherr, Graf & Puk 2019).

5.2 Der Bergbau und seine Hinterlassenschaften

Schon lange vor der Eroberung durch die SpanierInnen wurde in Chile Bergbau betrieben. Es waren besonders die Geschichten über die großen Reichtümer der chilenischen Anden, die Konquistadoren wie Diego de Almagro und Pedro de Valdivia im Jahre 1540 zur Eroberung des schwer zugänglichen Gebiets, das heute Chile darstellt, verleitet haben. Etwa in der Zeit der chilenischen Unabhängigkeit von Spanien im 19. Jahrhundert ist der Sektor dann zu einem wichtigen Wirtschaftszweig der jungen Nation geworden. Dabei wurden anfangs hauptsächlich Gold und Silber abgebaut. Spätestens ab Ende des 19.Jahrhunderts gilt der Sektor allerdings als zentrales Standbein der nationalen Wirtschaft, wobei sich der Abbau periodisch auf ein bestimmtes Produkt konzentrierte. Bis zum Anfang der synthetischen Herstellung von Salpeter, dem Beginn des zweiten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise von 1929 war Chile weltweit der Hauptexporteur von Salpeter. Nach der Salpeterkrise wurde der Kupferabbau zum „Motor der chilenischen Ökonomie“ und bleibt bis heute der größte und wichtigste Sektor des Landes. Bis zum Preisverfall der Rohstoffpreise 2014 produzierte das Land über ein Drittel des weltweit extrahierten roten Metalls und gilt bis heute mit jährlich etwa 5,7 Millionen Tonnen weiterhin als größter Kupferproduzent weltweit (Consejo Minero 2012).44
Die Produkte aus dem Bergbau machen in den letzten drei Jahrzehnten – auch nach dem Ende des Rohstoffbooms ab 2014 – dauerhaft deutlich über 50 Prozent der Exporte des Landes aus (Landherr 2018).45 Der Wirtschaftssektor wird trotz des wichtigen staatlichen Unternehmens Codelco zu zwei Dritteln von privaten Unternehmen dominiert, von deren Produktion wiederum fast 60 Prozent auf ausländische Unternehmen entfällt (Correa 2016:27 ff.). Chilenische Konglomerate sind in diesem Sektor aber durchaus relevant. Besonders bedeutend ist hier die Gruppe Luksic, deren Unternehmen allein acht Prozent der gesamten Kupferproduktion kontrollieren (ebd.29). 90 Prozent der privaten Produktion teilen sich die zehn größten Privatunternehmen untereinander auf (ebd.), weshalb kleinere und mittlere Unternehmen in diesem Sektor kaum eine Rolle spielen. Obwohl der Bergbau als wichtigster „Wirtschaftsmotor“ gilt, schafft er nur drei Prozent der nationalen Arbeitsplätze (INE 2014), die seit dem Fall der Kupferpreise (2014 ff.) zudem stark reduziert wurden.
Der Bergbau kontrolliert große Teile der natürlichen Ressourcen des Landes. Werden Erkundungs- und Abbaukonzessionen zusammengerechnet, stellen diese 29,7 Millionen Hektar, also knapp 40 Prozent des gesamten chilenischen Territoriums dar (Sernageomin 2017). Die starke Konzentration der konzessionierten Flächen zeigt sich darin, dass 45 Prozent der Erkundungskonzessionen auf die zwölf größten Akteure verteilt sind. Bei Abbaukonzessionen ist die Tendenz noch stärker: Drei Unternehmen (BHP Billiton, Codelco und Antofagasta Minerals) halten zusammen ein Drittel der Konzessionen. In Regionen wie Tarapacá und Antofagasta überschreitet die konzessionierte Fläche des Untergrunds sogar die Gesamtfläche dieser Regionen (Sernageomin 2017). Zudem haben sich die großen Bergbauunternehmen auch den Zugang zu Wasser gesichert. In der Region Tarapacá gehören beispielsweise 70 Prozent der Wasserrechte großen Megaabbauprojekten (Velásquez 2018). Dazu müssen außerdem die oben erwähnten aguas del minero gerechnet werden, die vom Staat nicht erfasst werden und dem Bergbau zur freien Verfügung stehen, was gesellschaftliche Kontrolle, Verwaltung und Management der Wasserressourcen und Ökosysteme unmöglich macht (Velásquez 2018). Die großen, meist ausländischen Unternehmen verfügen demnach vor Ort über eine große territoriale Macht (Landherr & Graf 2017, 2021), durch die sie sich nicht nur den Zugriff auf die strategischen natürlichen Ressourcen sichern können. Das neoliberale Modell ist zugleich von einem abwesenden Staat in den Gebieten der extraktivistischen Enklaven gekennzeichnet und übergibt deren Regulierung (auch die soziale Infrastruktur) weitestgehend an den Markt (Landherr, Graf & Puk 2019:86 f.; Landherr & Graf 2021). Insgesamt werden 80 Prozent der sozio-ökologischen Konflikte direkt oder indirekt von diesem Sektor verursacht.46
Kupfer und Kupferkonzentrate zusammen genommen stellen in den letzten drei Jahrzehnten zwischen 54 und 60 Prozent der chilenischen Gesamtexporte dar (INE 2016) sowie bis zu 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts und fast 15 Prozent der Steuereinnahmen (Consejo Minero 2016).47 2018 war die Kupferproduktion mit 5,83 Millionen Tonnen nach einem vierjährigen Einbruch der Gewinne wieder auf einem neuen Höchststand.48 Anfang 2021 lagen die Bergbauprodukte weiterhin bei 54,4 Prozent der Exporte, wobei Kupfer und Kupferkonzentrate allein 50,6 Prozent ausmachten.49 Während der Corona-Pandemie konnte der Sektor diesen Kurs halten und im Jahr 2020 12,5 Prozent des BIP ausmachen.50
In den letzten Jahrzehnten ist außerdem der Lithiumabbau hinzugekommen. Die weltweite Nachfrage an Lithium im Kontext der ökologischen Modernisierung der Zentrumsländer steigt derzeit stetig rasant an und soll bis 2030 um 80 % wachsen (Cochilco 2020a). Chile ist zusammen mit Bolivien und Argentinien eines der Länder mit den größten Vorkommen dieses strategischen Rohstoffes.51 Kupfer und Lithium stellen zusammen zwei Kernelemente erneuerbarer Energien und der sogenannten „grünen“ Technologien wie etwa der E-Mobilität dar (siehe unten). Trotz der hohen ökologischen und sozialen Kosten vor Ort, sowie der großen Herausforderung durch die Verknappung zentraler Ressourcen (besonders Wasser) für den Abbau- bzw. Produktionsprozess zeigen die derzeitigen Prognosen einen massiven Produktionsanstieg der beiden Rohstoffe in den nächsten drei Jahrzehnten auf (siehe unten).
Die extraktivistische und neoliberale Ausrichtung der chilenischen Ökonomie führt auch im Bergbau folglich dazu, dass hauptsächlich private Unternehmen kaum weiterverarbeitete Rohstoffe exportieren. Dies bedingt eine starke Abhängigkeit der chilenischen Wirtschaft von einem Sektor, der vorwiegend Vorteile für eine kleine Anzahl großer Unternehmen bringt, während die große Mehrheit der ChilenInnen die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Kosten tragen, die der Bergbau vor Ort hinterlässt. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich dabei mit Blick auf die sozial-ökologischen Folgen des Bergbaus in Chile vorwiegend auf die Produktion großer Mengen industrieller Abfälle in Form von Tailings, die aus diesen resultierenden gesundheitlichen Folgen und ökologischen Schäden sowie dem gesellschaftlichen Umgang mit den Tailings und ihrer relativen Unsichtbarkeit als sozial-ökologisches Problem (siehe Abschnitt 5.3).

5.2.1 Die nationale und internationale Bedeutung des chilenischen Bergbaus heute

Über die lange Zeit des kontinuierlichen ökonomischen Wachstums nach der Militärdiktatur hinweg blieb die extraktivistische Ausrichtung der chilenischen Ökonomie als „Entwicklungsstrategie“ unangefochten. Die positiven makroökonomischen Zahlen während des Rohstoffbooms zwischen 2000 und 2014 haben das Modell legitimiert und dabei geholfen, die schwerwiegenden sozialen und ökologischen Kosten der extraktiven Industrien unsichtbar zu machen oder sie zumindest zu rechtfertigen. Die Erzählung des Bergbaus als das „Einkommen Chiles“ ist dabei allerdings mehr ein offizieller Diskurs, als eine Lebensrealität der Mehrheit der chilenischen Bevölkerung, denn es sind vor allem einige wenige private Akteure, die die großen Gewinne des Sektors einfahren. Obwohl der Artikel 19, Nummer 24 der Verfassung besagt, dass alle Bergwerke absolutes, exklusives, unbestreitbares und unveräußerliches Eigentum des Staates seien, sieht die Realität heutzutage anders aus. Dem staatlichen Unternehmen Codelco unterliegen nur noch 29 Prozent der Kupferproduktion. Die übrige Produktion befindet sich in Händen ausländischer oder multinationaler privater Unternehmen. 90 Prozent dieser privaten Produktion werden, wie schon beschrieben, allein von zehn Großunternehmen kontrolliert (Correa 2016: 27 ff.).
Der Blick auf die Konzentration und Verteilung der Gewinne aus dem Bergbau ergibt ein ähnliches Bild. Weder die Einnahmen des staatlichen Unternehmens Codelco noch die Steuereinnahmen der Großkonzerne kamen der breiten Bevölkerung zugute oder waren von maßgeblicher Bedeutung für die öffentlichen Haushalte. Zwischen 2014 und 2018 wurden 75 Prozent der Gewinne des staatlichen Konzerns Codelco direkt an das Militär52 vergeben.53 Dazu kommt, dass die Steuerabgaben der großen Privatkonzerne sogar in Zeiten des Rohstoffbooms weit unter den festgelegten Steuersätzen lagen. Mehr als die Hälfte der Steuerabgaben dieser Zeit kamen allein von Codelco und wurden – wie beschrieben – größtenteils direkt zur Finanzierung des Militärs verwendet. Zwischen 2005 und 2010 lagen die Steuerabgaben der großen Privatkonzerne bei nur 2,7 Prozent ihrer Gewinne, während in der gleichen Zeit jährlich Summen ins Ausland flossen, die der doppelten Höhe des damaligen Bruttoinlandprodukts Paraguays (20 Milliarden US-Dollar) entsprachen (Palma 2013). Auf diese Weise wurden den zehn größten Bergbauunternehmen54 in nur zehn Jahren (2005–2014) 120 Milliarden US-Dollar vom Staat erlassen (Figueroa et al. 2016). Billige Ressourcen und niedrige Steuern ermöglichen es den Unternehmen besonders große Gewinne zu erzielen, während die Gebiete rund um die Vorkommen meistens arm und strukturschwach sind.
Wie stark gleichzeitig die Bergbaulobby ist, konnte nicht nur bei den Reformversuchen des Wasserkodexes 2017 beobachtet werden, sondern auch kürzlich bei der „Schreckenskampagne“, die im Jahr 2021 vor der Möglichkeit der Bewilligung eines neuen Royalty-Gesetzes in der Höhe von drei Prozent des Absatzes initiiert wurde55. Hierbei wurde durch den Einsatz von Produktionsprognosen ein starker (größtenteils unberechtigter) Einsturz der Kupferproduktion vorhergesagt, der zu einer Krise des ganzen Sektors führen würde und somit das Wirtschaftswachstum des Landes gefährde. Die Bergbaulobby sprach dabei von nötigen Lohnkürzungen, massiven Entlassungen und einem sofortigen Investitionsstopp, obwohl der Kupferexport zu dieser Zeit erneut boomte. Als Argument werden von unterschiedlichen Akteuren immer wieder die gleichen, falschen Zahlen von einer angeblichen Steuerlast von bis zu 75 Prozent ohne nachweisbare Quelle wiederholt.56 Verbreitet werden diese Schreckensszenarien etwa vom Bergbauminister Juan Carlos Jobet höchst persönlich sowie vom Präsidenten des Consejo Minero, Joaquin Villarino oder Diego Hernández, dem Präsidenten der Sociedad Nacional de Minería (SONAMI). Die Zahlen wurden von denselben WirtschaftswissenschaftlerInnen widerlegt, die 2016 eine Untersuchung zur massiven Steuervermeidung der großen privaten Bergbauunternehmen in Chile durchgeführt haben (Figueroa et al. 2016). Laut diesen Zahlen erhielt der Staat zwischen 2005 und 2014 Steuereinnahmen von 41.600 Millionen US-Dollar von den zehn größten privaten Bergbauunternehmen, während die gleichen Unternehmen im selben Zeitraum einen Extragewinn von 114 Milliarden US-Dollar durch die Nichtzahlung sonst üblicher Abgaben an den Staat machten (Figueroa et al. 2016).
Die größtenteils ausbleibende Umverteilung der Gewinne aus dem Bergbau an die chilenische Bevölkerung wird von einem weiteren „Mythos“ begleitet, der lange Zeit in Chile als unangefochtene Wahrheit galt: die große Zahl der Arbeitsplätze, die der Bergbau generiert (Ferrando, Ramírez y Espinoza 2015). So arbeiten im Bergbausektor laut offiziellen Zahlen – trotz eines pandemiebedingten Rückgangs von zehn Prozent der Arbeitsplätze – 710.000 ChilenInnen direkt oder indirekt im Bergbausektor.57 Bei einem näheren Blick auf diese Zahlen wird allerdings deutlich, dass nur 202.000 von ihnen formell angestellte ArbeiterInnen im Bergbau58 darstellen – inklusive der ArbeiterInnen in Subunternehmen. Der Sektor bewegt sich somit in den letzten drei Jahrzehnten bei nur etwa drei Prozent der Erwerbstätigen (INE 2014; Consejo de Competencias Mineras 2019). Als indirekt Angestellte werden in den offiziellen Statistiken häufig auch jene gezählt, die in anderen Branchen arbeiten, die vermeintlich direkt vom Bergbau abhängig sind. Von den ArbeiterInnen, die direkt an der Hauptwertschöpfungskette angestellt sind, sind wiederum nur 6,4 Prozent Frauen (Consejo de Competencias Mineras 2019).
Obwohl die Abbauprognosen einen stetigen Anstieg der vermuteten künftigen Produktion aufzeigen, sinken die 10-Jahres Prognosen des notwendigen Beschäftigungsumfangs jährlich, was vorwiegend an der Berücksichtigung der Implementierung neuer Technologien liegt. Upskilling und Reskilling sind dabei feste Bestandteile der Unternehmenspolitiken in Bezug auf eine kommende technologische Transformation im Sektor, die sowohl Automatisierung, Robotisierung als auch Digitalisierung im großen Maßstab beinhalten soll (Consejo de Competencias Mineras 2019). Gleichzeitig werden durch den Sektor auch andere wirtschaftliche Aktivitäten, lokale Ökonomien und Subsistenzwirtschaft – besonders durch die Konkurrenz um die dafür notwendigen Rohstoffe – verdrängt oder vernichtet. Dies führt zur Monopolisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten und somit auch zur Konzentration auf der Nachfrageseite auf den lokalen Arbeitsmärkten, wodurch wiederum die ökonomische Abhängigkeit der Bevölkerung vor Ort von den großen Bergbauunternehmen steigt (siehe Landherr & Graf 2021). Sowohl die gängige Darstellung Chiles als Bergbaunation, des Kupfers als „Einkommen der ChilenInnen“, als auch die Vorstellung das Kupfer gehöre allen ChilenInnen, entspricht bei genauerem Blick auf die Zahlen nicht der Realität (Ferrado, Ramírez & Espinoza 2015). Dennoch halten sich diese Erzählungen bis heute. Dies liegt besonders an der makroökonomischen Bedeutung und der Relevanz des Sektors bezüglich des Wachstums des chilenischen Bruttoinlandsproduktes in den letzten drei Jahrzehnten (Larraín, Yañez & Humire 2014).
Auf internationaler Ebene ist der chilenische Bergbau ebenfalls von äußerster Relevanz. Chile besitzt die weltweit größten Kupfervorkommen und ist gleichzeitig der größte Kupferproduzent mit knapp einem Drittel der globalen Produktion.59 Gleichzeitig besitzt das Land global gesehen die größten Lithiumreserven60 und produziert derzeit weltweit 29 Prozent des Lithiums.61 In Zeiten der ökologischen Modernisierung steigt die Nachfrage nach beiden Rohstoffen besonders aus Ländern des globalen Nordens und Asiens rasant an, da sie wichtige und bisher unersetzliche Bestandteile vieler Technologien zur Erzeugung erneuerbarer Energien sowie auch der Elektromobilität darstellen. Die derzeitigen Rohstoffstrategien vieler Länder, mit denen sich diese einen zukünftigen Zugang zu strategischen Ressourcen sichern wollen, führen zu starken Projektionen im Abbau chilenischer Bergbauprodukte und vertiefen einmal mehr die extraktivistische Ausrichtung des Landes. Während nach dem Ende des Rohstoffbooms die Diversifizierung der Exporte des Landes kurzzeitig höchste Priorität erlangt hatte, stehen Kupfer und Lithium derzeit wieder im Mittelpunkt der chilenischen Konjunkturaussichten. Die weitere Fixierung auf wenige Rohstoffe hält Chile allerdings in großer Abhängigkeit von der Nachfrage auf dem Weltmarkt. Bezüglich des Kupfers spielt Asien eine zentrale Rolle. 80 Prozent der Kupferexporte gehen in diese Region, wovon China allein 50,2 Prozent für sich beansprucht (Cochilco 2019). Ähnlich ist das auch bei Lithium. Von diesem Rohstoff gehen 93 Prozent der weltweiten Produktion nach Asien, 39 Prozent allein nach China, um dort vorwiegend zu Batterien (für Elektroautos, Elektrogeräte oder als Energiespeicher) weiterverarbeitet zu werden (Cochilco 2020b).
Die Abhängigkeit der chilenischen Wirtschaft vom Kupferexport und die daraus folgende Verwundbarkeit der Volkswirtschaft durch Preisschwankungen an den Weltmärkten wurde besonders mit dem Preisverfall der Rohstoffe ab 2014 deutlich.62 Die Schwankungen der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt und besonders der Preisverfall auf der internationalen Metallbörse stürzte den Sektor in eine schwere Krise. Die zehn größten Bergbauunternehmen, welche 90 Prozent der privaten Bergbauproduktion organisieren (Correa 2016, S. 29), meldeten nach nur zwölf Monaten eine Halbierung ihrer Gewinne. Ende 2016 kam es in Chile dann zum ersten wirtschaftlichen Einbruch seit 2009. Dies führte zu zahlreichen Entlassungen, einem Rückgang der Steuerabgaben der Privatunternehmen auf fast null Prozent und der Notwendigkeit des chilenischen Staates, das staatliche Unternehmen Codelco mit einem Rettungspaket von 975 Millionen Dollar zu retten. Die Regierung von Michelle Bachelet setzte, unter dem Druck der großen Unternehmen und unterstützt von internationalen Organisationen wie der CEPAL (Correa 2016, S. 7) im Jahr 2014 statt auf eine Diversifizierung der Ökonomie auf die Ausdehnung der Bergbauproduktion als Krisenüberwindungsstrategie. Auf diese Weise machte der Sektor in der gesamten Zeit weiterhin knapp 55 Prozent der Gesamtexporte aus (INE 2016) und verlor damit keinesfalls seine Relevanz als Basis der chilenischen Wirtschaft (Landherr, Graf & Puk 2019:84 f.). Der Bergbausektor verlor allerdings erstmalig an Legitimität in der Bevölkerung als verlässlicher „Motor“ der Ökonomie, für dessen Aufrechterhaltung kein Opfer zu groß zu sein scheint.
Die Ausrichtung nationaler Ökonomien auf den Export von Primärgütern ist gleichzeitig Produkt und Ursache ihrer Abhängigkeit (Graf et al. 2020:22). Diese Abhängigkeit der Länder des globalen Südens wird auch politisch – unter anderem durch die deutsche Rohstoffpolitik63 – aktiv aufrechterhalten. Dies geschieht nicht zuletzt durch Investitionsanreize in den rohstoffexportierenden Ländern wie Chile oder durch internationale (Handels-)Abkommen, die die Flexibilisierung von Arbeits- und Umweltregulierungen in diesen Ländern zur Folge haben. Dabei soll seitens der Zentrumsökonomien insbesondere die Zufuhr der für die sogenannten Zukunftstechnologien – mit Schwerpunkt auf Elektromobilität, Leichtbau und erneuerbare Energien – zentralen Ressourcen abgesichert werden. In den Worten des Bundesministeriums für Wirtschaft klingt dies wie folgt: „Der Zugang zu den Metallrohstoffen auf den globalen Rohstoffmärkten [wird] tendenziell schwieriger. So gehen immer größere Anteile des Rohstoffangebots bei vielen Rohstoffen auf immer weniger Unternehmen und Länder zurück.“64 Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie dennoch zu gewährleisten, unterstützt die Bundesregierung aktiv die Rohstoffversorgung der Unternehmen. Dazu nutzt die Bundesrepublik neben internationalen Abkommen unter anderem in Brasilien, Chile, Peru und Südafrika auch „Rohstoffpartnerschaften“ und „Kompetenzzentren für Bergbau und Rohstoffe“. Hierfür haben sich die Deutsche Rohstoffagentur der Bundesanstalt für Geologie und Rohstoffe, der Germany Trade & Invest und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag zum Netzwerk Rohstoffe zusammengeschlossen. Dieses Netzwerk kümmert sich explizit und aktiv um das Wohlergehen von Bergbauunternehmen im Ausland, ermöglicht ihnen schnellen Zugang zu Informationen der lokalen Märkte sowie direkte Kontakte in den Ländern.65 Chile ist eines dieser Länder: „Die deutsche Automobilindustrie ist bei Kupfer zu 100 Prozent von Importen abhängig. Chile ist mit großem Abstand das wichtigste Förderland und verantwortlich für die Bereitstellung von rund einem Drittel des weltweiten Bedarfs“ (Hütz-Adams et al. 2014: 16).
Ein Auto braucht laut dieses Berichts derzeit zwar nur 25 Kilogramm Kupfer, bei Elektroautos soll es aber zu einem erheblichen Anstieg des Kupferbedarfs kommen. Zusammengerechnet mit der steigenden Nachfrage im Automobilsektor wird die Nachfrage der Branche bis 2030 auf das 2,6-fache geschätzt (Hütz-Adams u. a. 2014). In diesem Zusammenhang ist auch die internationale Zusammenarbeit, die in Chile bspw. von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als wirtschaftliche Förderung zur nachhaltigen Entwicklung dargestellt wird oder die „Technische Kooperation“ mit der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) zu sehen. Von institutionalisierten Formen zur Durch- und Umsetzung der deutschen Interessen, was die Förderung strategischer Rohstoffe betrifft, erzählen im Interview sowohl Werner Zimmermann (PW03) wie auch Jens Müller (PW02), beide ehemalige Mitarbeiter des BGR. Was in Deutschland und anderen Ländern ein Versuch zum „greening“ der Automobilherstellung und -nutzung darstellt, führt in Chile direkt zur Intensivierung des Extraktivismus. Dies ist eine Tendenz, die zudem durch die bestehenden Freihandelsabkommen gefördert wird. Solche Umstände haben zur Folge, dass der Ausbau des chilenischen Bergbausektors weiterhin stark vorangetrieben wird. Allein die Kupferproduktion soll zwischen den Jahren 2020 und 2031 um 22,6 Prozent auf eine jährliche Produktion von 7,095 Millionen Tonnen ansteigen (Cochilco2020c).

5.2.2 Die großen Bergbauunternehmen und der „abwesende Staat“

Während sich der Lithiumabbau in Chile gerade erst konfiguriert und bisher besonders ein großes chilenisches Unternehmen (SQM) den Markt beherrscht, dominieren im restlichen Bergbausektor eine Reihe von transnationalen Großunternehmen fast den kompletten Markt.66 Die sogenannte Gran Minería del Cobre (übersetzt der große Kupferbergbau), setzt sich aus den 19 größten Bergbaukonzernen zusammen, die in Chile tätig sind und jeweils mindestens über 50 Tausend Tonnen reines Kupfer produzieren. Sie organisieren sich zusammen in dem Unternehmensverband Consejo Minero. Neben dem staatlichen Unternehmen Codelco finden sich dort die privaten transnationalen Unternehmen AngloAmerican, Barrick, BHP, Candelaria (Lundin Mining), Centinela (Antofagasta Minerals), CMP (Grupo Gap), Collahuasi (SCM), El Abra (Freeport-McMoran), Escondida (BHP), Freeport-McMoran, Glencore, Goldfields, KGHM (Chile SpA), Kinross, Los Pelambres (Antofagasta Minerals), Lumina, Rio Tinto und Teck. Sie vereinen zusammen 95 Prozent der Kupferproduktion, 56 Prozent der nationalen Goldproduktion, 78 Prozent der Produktion von Silber, 99 Prozent der Molybdänproduktion und 99 Prozent der Eisenproduktion.67 Durch den Unternehmerverband soll vor allem die Wettbewerbsfähigkeit des chilenischen Bergbaus auf dem Weltmarkt sowie seine Legitimität innerhalb Chiles gesichert werden.
Die chilenischen Bergbauunternehmen besitzen damit nicht nur die stärkste Lobby68 des Landes,69 sondern auch direkte Beziehungen zur politischen Klasse. Diese ergeben sich unter anderem aus den häufig vorkommenden personellen Überschneidungen zwischen Ministerien und der Unternehmensführung (Skoknic 2014).70 Durch großzügige finanzielle Unterstützung üben die Bergbauunternehmen zudem direkten Einfluss auf Forschung, Wissenschaft, Universitäten und Medien71 sowie auf Thinktanks und die Zivilgesellschaft aus.72 Oftmals sind die Unternehmensgruppen, die eines der großen Bergbauunternehmen besitzen, in vielen weiteren Sektoren tätig. So gehört etwa zur Gruppe Luksic nicht nur Antofagasta Minerals, sondern ebenso drei weitere Bergbauunternehmen sowie einer der vier wichtigsten Fernsehkanäle Canal 13,73 der Energie und Erdöl Konzern ENEX (Shell und Terpel), mit Banco de Chile eine der größten Banken, der größte Getränke- und Bierhersteller (CCU) sowie u. a. Unternehmen im Schifftransport, Baustoffbereich, der Lebensmittelindustrie und der Telekommunikation. Diese Unternehmensgruppen sind gleichzeitig wichtigste Geldgeber bei der Kampagnenfinanzierung in politischen Wahlen (Matamala 2015:40,43,107). Sie schaffen es auf diese Weise nicht nur ihre Interessen in politischen Entscheidungsprozessen durchzusetzen, sondern dem Bergbausektor gleichzeitig ein positives Bild in der Öffentlichkeit zu verleihen, indem dessen Relevanz und Beitrag zum Fortschritt des Landes74 hervorgehoben wird, während negative Externalitäten, Umweltskandale, Arbeitskämpfe oder sozial-ökologische Konflikte auf dieselbe Weise relativiert werden. Der Bergbau kann sich so als wirtschaftlich notwendiger sowie sozial und ökologisch nachhaltiger Sektor75 in der Öffentlichkeit darstellen.
Während der Staat einerseits einen großen institutionellen Apparat zur Förderung des Bergbaus besitzt, sind die Behörden, die diesen Sektor kontrollieren sollen, eher prekär aufgestellt. Das Finanz- und Bergbauministerium sind gut ausgestattet und stehen in enger Zusammenarbeit, während das erst 2010 gegründete Umweltministerium76 über wenige personelle und finanzielle Mittel verfügt, um etwa die Umweltprüfungen oder die Untersuchung der Umweltbelastungen extraktiver Aktivitäten durchzuführen. Dies führt nicht zuletzt zu einer umfassenden staatlichen Untätigkeit im Bereich der Bergbauabfälle: Anfang der 2010er Jahre wurde das Forschungsinstitut CENMA vom Umweltministerium im Rahmen der Erstellung der Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes beauftragt, alle chilenischen Tailings zu identifizieren, zu priorisieren und eine Risikoabschätzung für diejenigen mit der höchsten Schadstoffbelastung zu erstellen.77 In einem nächsten Schritt sollten diese Gebiete dann restauriert werden. Bis heute ist dieser erstmals großangelegten Untersuchung jedoch kein staatlicher Eingriff gefolgt. Als höchste Priorität wurden die in dieser Forschung untersuchten Tailings aus Pabellón eingestuft. Bei den im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführten Feldforschungen ließ sich allerdings feststellen: Die Tailings sind bis heute frei zugänglich, die betroffene Bevölkerung nicht über die bestehende Gefahr informiert und es wurde nicht einmal ein warnendes Schild angebracht. Bis zu meinem letzten Besuch vor Ort 2019 war in Pabellón nicht ein einziger staatlicher Angestellter erschienen, um die Bevölkerung zu informieren oder die Tailings abzusichern. Von einer Restaurierung fehlt jede Spur. Die Erklärung der regionalen Beauftragten des Umweltministeriums in der Region Atacama im Interview lautete, es fehle an finanziellen Mitteln und einer klaren Zuständigkeit. Isabel Contreras (PS01) verweist in unserem letzten Interview 2019 auf andere Behörden wie das Bergbau-, Gesundheits-, Innenministerium sowie auf das Ministerium für soziale Entwicklung als zuständige Akteure. Sie erklärt auch, die verfügbaren Mittel seien in eine Reihe anderer Umweltprobleme, wie etwa die Überschwemmungen 2015 und 2017 geflossen. Außerdem habe der Regierungswechsel Anfang 2015 (von Michele Bachelet zu Sebastián Piñera) die Fortführung des oben beschriebenen Projekts der Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes behindert und spätestens seit der Ernennung des neuen Intendanten der Region Atacama müsse das Thema auf politischer Ebene komplett neu aufgeworfen werden. Es sei aber nicht so schlimm, versichert sie gleichzeitig, die Betroffenen seien ja „nur so wenige“ (PS01). Das größte Problem seien allerdings die fehlenden Normen und Richtwerte, was die Schadstoffbelastung der Böden angeht. Es gäbe weder eine klare juristische Regulierung noch klare Richtwerte (siehe hierzu Abschnitt 5.3.2). Jeglicher mögliche Eingriff würde auf reinen Empfehlungen, „auf reinen Zahlen ohne Parameter“ beruhen (PS01) sowie auf dem Abgleich mit nicht verbindlichen internationalen Richtwerten. „Deshalb haben wir auch nicht die Möglichkeit, die erhobenen Informationen zu veröffentlichen oder weiterzugeben. Ohne Regulierung und Richtwerte können wir ein Gebiet nicht als Risikogebiet deklarieren“, so die Interviewte (PS01). Sechs Jahre zuvor hatte Isabel Contreras (PS01) das Projekt der Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes (durch die Resolución Exenta No 406/2013 genehmigt) noch im Interview als wichtigste Maßnahme zum Umweltschutz und zur Aufarbeitung und Wiederherstellung der durch den Bergbau kontaminierten Böden in ihrer Region vorgestellt.78
Noch deutlicher wird die fehlende staatliche Kontrolle über die Tätigkeiten der Bergbauunternehmen mit Blick auf die Regionalbüros des Servicio Nacional de Geología y Minería (Sernageomin), denen die Aufgabe der Überwachung der Einhaltung der Gesetze und Regulierungen zufällt. Der Leiter des Regionalbüros in Copiapó, Matias Rebolledo (PS04), beschreibt diese Aufgabe als aussichtslos und unmöglich. Er könne für diese Aufgabe in einer Region mit rund 50 Bergbaugebieten, 34 großen Bergwerken und unzähligen kleineren Vorkommen auf lediglich zwei MitarbeiterInnen zurückgreifen. Diesen zwei MitarbeiterInnen obliegt es, die gesamten Bergbauaktivitäten der Region zu überblicken und vor Ort zu überprüfen, was eine unmögliche Aufgabe darstelle, meint Rebolledo. Bei Nichteinhaltung sei es zudem fast unmöglich, das Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Moment des Interviews war zuvor eine neue Gesetzgebung zur sicheren Stilllegung der Bergwerke und der sicheren Lagerung der Altlasten (pasivos ambientales) nach Rohstofferschöpfung in Kraft getreten, die die derzeit aktiven Unternehmen dazu verpflichtete, einen Schließungsplan sowie einen Kostenvoranschlag und Finanzierungsmöglichkeiten für diesen einzureichen. Dazu sagt Rebolledo im Interview: „Wir sind jetzt drei Wochen über der Frist und nur zwei Unternehmen haben ihren Schließungsplan eingereicht. Was kann ich da tun? Über dreißig große Unternehmen und das bei der Stellung, die der Bergbau in Chile hat, schon allein ökonomisch meine ich, da muss ich einfach warten. Wir sind eine kleine Behörde, zwingen können wir niemanden“ (PS04). Unter den Unternehmen, die die Frist nicht eingehalten hatten, sind auch Großunternehmen und Mitglieder des Consejo Minero, wie etwa des Unternehmen Candelaria. Gleichzeitig versichert mir der Sprecher des Unternehmerverbandes Sebastián Donoso (PU03), die Einhaltung der Umweltregulierungen sei oberste Priorität seiner Mitglieder.79
Zeigt der chilenische Staat schon auf regionaler Ebene einen Verlust an Kontrolle bezüglich der Regulierung der Bergbauindustrie auf, so ist er auf lokaler Ebene, das heißt an den Orten des Abbaus, fast gänzlich abwesend (siehe hierzu auch die Kapitel 6, 7 und 8 zu den Fällen Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral). Wie oben schon angesprochen, korreliert die Abwesenheit des Staates mit der zunehmenden territorialen Macht der Bergbauunternehmen in den nördlichen Regionen des Landes. Die großen Unternehmen haben sich durch die Bergbaukonzessionen nicht nur fast den gesamten Untergrund der Bergbauregionen wie Tarapacá, Atacama und Antofagasta gesichert, sondern auch den Zugang zu den dort vorkommenden Ressourcen. Kombiniert mit der Monopolisierung der Zuliefer- und Arbeitsmärkte vor Ort dominieren die Bergbauunternehmen die lokalen Verhältnisse häufig in Form regelrechter Enklaven. In diesen Gebieten geht die Präsenz der Unternehmen weit über reine Corporate Social Responsability Policies (CSR) hinaus: Sie finanzieren Infrastrukturprojekte, Fußballstadien, Krankenhäuser und Schulen und haben durch die Finanzierung der Gemeinde großen Einfluss auf deren Handeln (siehe Kapitel 7 zu Tierra Amarilla). Diese territoriale Macht einzelner Unternehmen und die Abwesenheit des Staates auf lokaler Ebene ermöglichen es, vor Ort ausflammende Konflikte „Enklaven-intern“ zu halten und zu lösen, ohne dass diese die Öffentlichkeit erreichen.
Die chilenische Gesellschaft und seine Wirtschaft sind zudem insbesondere seit der Militärdiktatur durch eine erhebliche Interessenkonvergenz zwischen staatlicher Außen- und Innenpolitik und den großen Unternehmen gekennzeichnet (Fischer 2011; Landherr & Graf 2017; Pizarro 2020). Dadurch wurde ein institutioneller Rahmen errichtet, der vor allem der Förderung der wirtschaftlichen Interessen der großen Bergbaukonzerne dient und diesen den Zugang zu und die Kontrolle über zentrale natürliche Rohstoffe und die Gebiete, in denen diese vorkommen, überlässt (Landherr 2018). Während der Staat auf nationaler Ebene aktiv den Bergbau fördert, zieht er sich gleichzeitig auf lokaler Ebene zurück und ist besonders für die Betroffenen dort abwesend (Landherr & Graf 2021). Neben der strukturellen und institutionalisierten Macht ergibt sich somit eine starke territoriale Macht der Unternehmen, die auf nationaler Ebene durch eine hegemoniale Macht begleitet und deshalb auch in der Öffentlichkeit wirksam wird. Der Bergbau wird in Chile sowohl politisch als auch medial als unumstrittener und unausweichlicher Weg zum Fortschritt dargestellt, für das kein Opfer zu groß scheint.80 Trotz deutlicher Verbesserungen der Umweltregulierungen und wachsendem Erfolg sozial-ökologischer Bewegungen und Kämpfe hat die Aufrechterhaltung des Bergbaus als zentralem Wirtschaftsmotor bis heute politische Priorität.

5.2.3 Die sozialen und ökologischen Kosten des Extraktions- und Produktionsprozesses im Kupferabbau

Neben der ökonomischen Abhängigkeit von den Konjunkturen der Weltmärkte steht der Bergbausektor auch im Inland auf einem unsicheren Fundament: Er stößt schon seit Jahren immer wieder an soziale, ökonomische und vor allem ökologische Grenzen (Landherr 2018). Trotz aller Bemühungen der Industrie, durch Konzepte wie „green mining“ den Anschein zu erwecken, es könne einen nachhaltigen Bergbau geben, ist die Extraktion von Metallen und Mineralien intrinsisch nicht-nachhaltig. Die Extraktion der Bodenschätze ist zudem materiell endlich und Dauer kaum aufrecht zu erhalten, da sie große Mengen an Wasser und Energie benötigt und dabei langfristig ihre eigenen Produktionsgrundlagen vernichtet (Larraín, Yañez & Humire 2014:4 ff.).
Zwischen 1991 und 2010 nahm der Sektor – Abbau und Industrie zusammengerechnet – im Durchschnitt 54,8 Prozent der nationalen Stromerzeugung in Anspruch (INE 2010), wobei der hohe Erdölverbrauch noch nicht eingerechnet ist. Obwohl der gesamte Bergbau nur 3,8 Prozent des nationalen Wasserkonsums ausmacht (Martínez et al. 2018, S. 76), entfällt dieser auf eines der trockensten Gebiete der Erde und stellt in diesen einen großen Anteil des verfügbaren Wassers dar. Der chilenische Wasserkodex führt dazu, dass dadurch große Städte wie etwa Copiapó Schwierigkeiten haben, ihre Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen und ganze Täler wie das Valle de Copiapó ihre Vegetation verlieren. Grund hierfür ist unter anderem, dass Bergbauunternehmen die landwirtschaftlichen Betriebe ihrer Wasserrechte wegen aufkaufen, um somit den Wasserkonsum der Industrie gewährleisten zu können. Der Bergbau ist somit eine zentrale Ursache der sozial-ökologischen Konflikte im Bereich des Wassermangels Chiles. Es ist allerdings üblich, dass Unternehmen eigenständig und ohne die Vermittlung durch staatliche Institutionen diese Konflikte beispielsweise durch ökonomische Kompensationen oder den Bau von Infrastruktur beschwichtigen (Landherr, Graf & Puk 2019:89).
Die großen extraktivistischen Wirtschaftssektoren stehen zudem in starker Konkurrenz zueinander, was den Zugang zu den verfügbaren Ressourcen betrifft. Während etwa der Energie- und Bergbausektor eine gewisse Allianz aufweist, ist die Rivalität zwischen der Landwirtschaft und dem Bergbau besonders groß. Sebastián Donoso des Consejo Minero beklagt sich im Interview über die politische Macht der Landwirtschaft. Sie müsste als einziger Sektor keine Umweltevaluierung durchlaufen (SEIA), obwohl das Thema der Bodenverseuchung durch Pestizide und Düngermittel heute ein bekanntes Problem darstelle. Zudem sei der Sektor für 85 Prozent des Süßwasserkonsums verantwortlich, so Donoso. Wenn es dann allerdings um die Verstaatlichung von Rohstoffen und eine staatliche Kontrolle über die verfügbaren Ressourcen wie etwa im Falle der mehrfachen Versuche einer Reform des Wasserkodexes geht, treten alle Wirtschaftssektoren vereint gegen solche politischen Bemühungen auf.81 Anschließend räumt er aber ein, dass „die Bergwerke den großen Landwirten Wasser abkaufen. Im Tal von Copiapó bspw. wird die Mehrheit des Wassers der Minen für gemahlenes Gold zu horrend hohen Preisen den landwirtschaftlichen Unternehmen abgekauft“ (PU03). Im nächsten Satz macht Donoso wiederum die Landwirtschaft allein für die Dürre und den Wassermangel in dieser Region verantwortlich. Die Abhängigkeit der Bergbauindustrie von ständig verfügbaren Wasserressourcen führt zudem zu einer Konkurrenz mit der Subsistenzwirtschaft und dem Erhalt der Lebensräume der ansässigen Bevölkerung. Dies zeigt sich in einer steigenden Unzufriedenheit und der Zunahme sozial-ökologischer Konflikte (Guerrero & Cifuentes 2013; INDH 2016).
Während die Wasserressourcen auf dem Land derzeit teils irreversibel zerstört werden, hat die Bergbauindustrie für sich schon eine technologische Lösung gefunden: die Entsalzung von Meerwasser. Woher die zusätzlich notwendige Energie für dieses aufwendige Verfahren kommen soll, ist allerdings noch nicht geklärt, da das Land mit seiner jetzigen Energieproduktion bereits Probleme aufweist den Sektor zu versorgen. Trotzdem geht der Staat von einer Zunahme des Meereswasserkonsums um 289,9 Prozent bis 2028 aus (Cochilco 2017). Für die Energieerzeugung werden unter anderem große Wasserwerke im Süden des Landes errichtet, die – wie das Beispiel HydroAysén im Jahr 2011 anschaulich gezeigt hat – wiederum starke Konflikte in den betroffenen Regionen hervorrufen. Hinzu kommt ein weiterer Teufelskreis: Die Reinheit der Kupfervorkommen nimmt stetig ab, weshalb für die Produktion der gleichen Menge an Metall nicht nur größere Mengen an Erzen verarbeitet werden müssen, sondern gleichzeitig immer mehr Wasser und Energie benötigt werden. Deshalb werden pro Kilogramm Metall proportional auch immer größere Mengen Bergwerkmüll, Tailings und anderen Altlasten sowie Treibhausgasen produziert. Die Übernutzung der Ressourcen zusammen mit der stetig steigenden Nachfrage führen zu einer schnellen Zuspitzung der ökologischen Widersprüche (Landherr, Graf & Puk 2019:88 f.). Gleichzeitig wird der Peak Copper auf 2030 geschätzt (Kerr 2014). Der chilenische Staat selbst prognostiziert den Peak Copper, den Höhepunkt der Verfügbarkeit an Kupfer, mit einer Jahresproduktion von 7,35 Millionen Tonnen, mittlerweile sogar schon für das Jahr 2028. Ab dann rechnen die chilenischen Behörden mit einer stetigen Produktionsabnahme: bei Beibehaltung jetziger Minen und geplanter Technologien auf 3,99 Millionen Tonnen 2031; im Idealfall mit Einberechnung neuer (bisher nicht geplanter) Bergbauprojekte auf letzten technologischen Stand auf 5,73 Millionen Tonnen (Cochilco 2020c). Damit wird die Produktion zunehmend unrentabel und die Produktionsmenge sinken stetig. Ohne bisher wirtschaftliche Alternativen für die Zeit nach der Schrumpfung der Vorkommen zu erarbeiten, setzt die Regierung weiterhin auf den Ausbau dieses Sektors, der schon in kurzer Zeit sein Wachstumspotenzial verlieren könnte und die ständige Zufuhr anderer knapper Ressourcen benötigt. Es ist derzeit nicht die fehlende Nachfrage, sondern es sind vor allem die sozialen und ökologischen Grenzen, die der Industrie zu schaffen machen (Landherr, Graf & Puk 2019:85 f.). Dabei spielen die Abfälle des Bergbaus eine besondere Rolle.

5.3 Tailings: Die Abfälle des chilenischen Bergbaus

5.3.1 Definition, Entstehungsprozess und Verbreitung der Tailings in Chile

Je nachdem welches Metall oder welche Mineralien im Bergbau abgebaut werden, stellt sich der Extraktions- und Produktionsprozess sowie die dafür notwendigen Vorprodukte und Rohmaterialien unterschiedlich dar. Im Allgemeinen benötigt der Sektor aber vorwiegend große Mengen an Wasser und Energie, um die Extraktion und Weiterverarbeitung der Erze zu bewerkstelligen. Im Kupferabbau, um den es in dieser Arbeit hauptsächlich geht,82 werden die Erze und Gesteine zunächst zerkleinert und gemahlen (auf 0.18 Millimeter), um dann durch den Flotationsprozess in großen Wasserbecken und durch das Zugeben unterschiedlicher Chemikalien das Kupfer (oder anderes Metall) vom restlichen Material zu trennen. In einem weiteren Produktionsschritt wird das Kupfer dann auf 1200 Grad erhitzt und geschmolzen und anschließend werden die restlichen Rückstände (Schlacke) von dem übrig gebliebenen molekularen Sauerstoff getrennt (Verhüttung). Anschließend folgt die elektronische Verfeinerung (Elektrorefinación) und die Auswaschung.83 Besonders im Flotations- und Verhüttungsprozess entstehen große Mengen an industriellen Abfällen. Den Großteil dieser Abfälle stellen die Tailings dar, wie die Rückstände des Flotationsprozessen bezeichnet werden. Aufgrund ihrer hohen Konzentration an giftigen Chemikalien und Schwermetallen84 müssen diese Tailings in der Regel aufwendig in großen Becken oder Dämmen unter ständiger Wasserzufuhr gelagert werden. In manchen Fällen gibt es auch trockene Lagerformen.
Frühere Tailings wurden lange vor den ersten Umweltregulierungen offen und ungesichert in der Natur entsorgt. Durch ihre farbliche Zusammensetzung und sandige Textur ist es heutzutage teilweise unmöglich, diese von der restlichen Umgebung zu unterscheiden.85 Dies erleichtert ihre Ausbreitung auf Gewässer, Böden, Luft und dadurch Körper und ganze Ökosysteme. Besonders beunruhigend sind dabei einerseits die hohen Konzentrationen toxischer Komponenten, wie etwa Arsen, Quecksilber, Blei oder Zyanid, die sich darin befinden und jegliche internationalen Richtwerte weit überschreiten (CENMA 2011; Eberle 1998a, 1998b; Muñoz & Silva 2001; Cortés et al. 2015; Cortéz & Sila 2000). Die in den Tailings enthaltenen Komponenten führen oftmals zu irreversiblen Schäden für die Gesundheit der Bevölkerung sowie in lokalen Ökosystemen – insbesondere dann, wenn sie natürliche Kreisläufe vollständig unterbrechen. Während es die industrielle Bergbauproduktion teilweise geschafft hat, die Konzentrationen an Chemikalien etwas zu reduzieren, produziert sie gleichzeitig steigende Mengen an Tailings.86 Entlang des chilenischen Nordens entstehen große künstliche Berge und gigantische Auffangbecken, um die Tailings zu deponieren. Alle 30 Stunden entstehen neue 2.572.263 Tonnen an Tailing-Material, was täglich einem neuen Cerro Santa Lucía, dem Hausberg der chilenischen Hauptstadt Santiago, entspricht.87 Große Landstriche werden dabei komplett verändert. Der enorme Eingriff in die Ökosysteme hat auch damit zu tun, dass es sich beim gesamten abgebauten und verarbeiteten Material in der Kupferproduktion nur zu knapp einem Prozent um Metall handelt (Sernageomin 2015). Die restlichen 99 Prozent werden in Form von Tailings zurückgelassen, die – wie beschrieben – mit unterschiedlichen Chemikalien und Schwermetallen belastet sind. Neben den 5,8 Millionen Tonnen Kupfer werden so jährlich etwa 700 bis 800 Millionen Tonnen größtenteils giftige Industrieabfälle und Rückstände produziert – 537 Millionen Tonnen davon sind Tailings (Sernageomin 2015, 2018). Heute werden in Chile 758 Tailings gelistet, wobei viele der historisch produzierten Tailings nicht mehr auffindbar sind und dennoch ein großes Risiko für die Bevölkerung darstellen können. Chile ist nach China und den USA das Land mit den größten Zahlen an Tailingdeponien weltweit. Aufgrund einer bis 2012 fehlenden und immer noch lückenhaften Regulierung (siehe unten) sind die bestehenden Tailings in Chile größtenteils ungesichert und breiten sich langsam auf die umliegenden Böden, Gewässer und schließlich das Meer aus. Boden- und Wasserqualitätsmessungen in den nördlichen Gebieten zeigen eine schwere Überlastung der Gewässer durch gesundheitsschädliche Schwermetalle und chemische Elemente (unter anderem Arsen, Blei und Quecksilber) (Martínez et al. 2018, S. 115; Eberle 1998a, 1998b; CENMA 2011).
Die stetig sinkende Reinheit der Vorkommen hat zur Folge, dass für die gleiche Menge an Kupfer viel größere Mengen an Erzen extrahiert und bearbeitet werden müssen, was wiederum zu einer stetigen Zunahme an Tailings führt. Zusammen mit der geplanten Steigerung der Kupferproduktion wird laut einer Forschung von Fernando Campos und Iván Ojeda der Universidad de Chile88 für 2026 eine Tailingsproduktion von jährlich 915 Millionen Tonnen prognostiziert, was eine Steigerung um 74 Prozent zum Jahr 2014 darstellt (damals waren es 525 Millionen Tonnen). Neben der chemischen Belastung ist auch die physische Stabilität dieser großen Mengen an Tailings ein Problem.
Immer wieder kommt es zum Einstürzen von Dämmen und Auffangbecken von Tailings. Als 2019 in Brasilien der Tailingdamm des Bergbaukonzerns Vale einstürzte, kamen 270 Menschen ums Leben. Das Ereignis ging medial um die Welt. 75 Prozent der weltweit durch den Bergbau verursachten (Umwelt)Katastrophen sind auf das Versagen von Tailingdeponien zurückzuführen, sei es durch das Austreten giftiger Schadstoffe oder durch das Versagen ihrer physischen Stabilität (Mining, Minerals and Sustainable Development Project 2002). Iván Ojeda, Forscher des Laboratorio de Sociología Territorial (LST) der Universidad de Chile, erklärt dazu in einem Interview in der Tageszeitung El Mostrador89: „Es handelt sich dabei um ein Problem, das sich zeitlich ausdehnt und hoch komplex ist. Das Problem besteht seit den Anfängen des Bergbaus in Chile, was lange her ist und sich gleichzeitig auf die Zukunft ausdehnt. Deswegen ist es ein so wichtiges und großes Problem“.
Um die chemische Stabilität der Tailingdeponien sowie die physische Stabilität der Auffangbecken und -dämme langfristig zu gewährleisten, gibt es bisher keine verlässliche Form der Lagerung bzw. sicheren Schließung. Das gilt insbesondere in solchen Fällen, in denen ein Bergwerk stillgelegt wird. Obwohl seit 2012 eine „sichere Schließung“ der Bergwerke und all ihrer Anlagen sowie Deponien rechtlich vorgegeben ist, sei dies in der Praxis kaum möglich, erzählt Werner Zimmermann im Interview (PW03). Zimmermann ist ehemaliger Projektleiter der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) im Bereich der Technischen Zusammenarbeit (TZ) in Chile und Peru und befasste sich insbesondere mit der Untersuchung von Bergbau-Altlasten. Er erklärt: „Auf heutigem technischen Stand kann kaum verhindert werden, dass nach etwa 20 bis 30 Jahren zumindest der Beckenboden nachgibt und die chemischen Substanzen austreten, in das Grundwasser, in die Böden der Umgebung […] theoretisch müssen sie instandgehalten werden, bis sie gesundheitlich unbedenklich sind und damit meine ich bis zu 150.000 Jahre“ (PW03). Alles andere seien „schöne Erzählungen“ der Industrie, die kaschieren wollten, dass es bisher keine effektiven Lösungen für das Problem gebe und der Bergbau gleichzeitig nicht aufhören könnte, diese Altlasten in großen Mengen zu produzieren, erklärt Zimmermann. Deshalb setze der Sektor nun auf neue Technologien, um die bestehenden Tailings wiederaufzuarbeiten und die in ihnen verbleibenden Metalle zurückzugewinnen. Dies sei mancherorts machbar, da es bei hohen Metallkonzentrationen wirtschaftlich rentabel für die Unternehmen sei und würde das Problem etwas erleichtern, allerdings würden auch in diesem Prozess Industrieabfälle produziert: „es ist aber immerhin besser als nichts zu tun“, so der Experte (PW03).
Besonders problematisch sind allerdings die 641 in Chile bestehenden Tailingdeponien, die zeitlich vor dem Gesetz 20.551 zur sicheren Schließung der Bergwerke (2011) entstanden sind. 467 davon sind keinem derzeit aktiven Unternehmen zuzuordnen, 174 gelten als verlassen (Sernageomin 2020). Für sie besteht weder ein rechtlicher Rahmen noch eine klare Verantwortung. Auch die finanziellen oder technischen Mittel für eine Restaurierung oder Sanierung sind nicht vorhanden (Toro Araos 2017). Diese „verwahrlosten Tailings“ wurden im Rahmen erster Untersuchungen des Sernageomin in Zusammenarbeit mit dem BGR zwischen 1999 und 2002 erstmals in einer Liste erfasst (Eberle 1998a, 1998b). Diese Liste wurde dann im Rahmen des Projekts Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes des Umweltministeriums und der Fundación Centro Nacional del Medio Ambiente (CENMA) erweitert, die Tailings priorisiert und auf ihre chemische Zusammensetzung untersucht. Außer einigen – vorher schon bekannten – Extremfällen (u. a. die Tailings in Pabellón, siehe Kapitel 6) wurden, trotz des in Chile bestehenden Transparenzgesetz (Ley de Transparencia), die Ergebnisse allerdings bisher nicht veröffentlicht.
Paula Veloz (PW05) – Beauftragte der Durchführung des Projekts in CENMA – bestätigt im Interview die schon 1999 von Dr. Eberle beschriebenen Befunde, welche alarmierende Schadstoffkonzentrationen in einer Vielzahl von Fällen feststellte. Auch unabhängige Wissenschaftler wie Cristobal Valenzuela (PW01) des Instituts IDICTEC der Universidad Atacama in Copiapó sowie einige seiner Doktoranden kommen bei der Analyse der Proben einiger der gelisteten Tailings auf ähnliche oder sogar noch höhere Ergebnisse (siehe Ausführung in Kapitel 6 zum Fall Pabellón). Valenzuela kritisiert außerdem, dass die staatliche Untersuchung zu wenige Proben pro Deponie durchführe, um eine aussagekräftige Risikobewertung durchführen zu können und es fehle ihnen zudem an Vorkenntnissen über die Entstehung der Tailings: „Viele dieser alten Tailings wurden nicht industriell hergestellt, sie sind über Jahrzehnte durch Anwendung unterschiedlicher Aufarbeitungstechniken entstanden. Sie sind also ganz und gar nicht homogen in ihrer Zusammensetzung […]. Was du hier misst, kann da drüben ganz anders sein“, erklärt Valenzuela (PW01). Er habe in Totoralillo bspw. an manchen Stellen eine viermal höhere Quecksilberkonzentration gemessen als die WissenschaftlerInnen des CENMA.
Vor dem Hintergrund der hohen Belastungen von Mensch und Umwelt, die von den Tailings ausgehen, mutet es überraschend an, dass von den 127 derzeit bestehenden sozial-ökologischen Konflikten in Chile,90 kaum welche Tailings oder Tailingdeponien als direkte Ursache verbuchen, obwohl bei genauer Betrachtung etwa 80 Prozent der genannten Konflikte direkt oder indirekt mit dem Bergbau zusammenhängen (INDH 2016). Auch in der Öffentlichkeit werden Tailings nur selten und vereinzelt als Gesundheits- oder Umweltproblem thematisiert.91 Selbst die Zivilgesellschaft sowie UmweltaktivistInnen und -bewegungen machen selten auf die schwerwiegenden Konsequenzen der Tailings aufmerksam.92 Wie meine Forschung insbesondere zum Fall Pabellón zeigen wird (siehe Kapitel 6 und 9), ist die materielle Unsichtbarkeit der Tailings eine zentrale Ursache der geringen Thematisierung und der oftmals ausbleibenden Risikowahrnehmung. Schwermetalle und Chemikalien, die in Tailings vorkommen, breiten sich zudem unbemerkt in die Umgebung aus. Sie gelangen durch Wind und Regen über Luft und Böden bis in oberflächliche Gewässer und das Grundwasser. Die Materialien werden zudem von Menschen, Tieren und Pflanzen unbemerkt durch die Nahrung oder die Haut aufgenommen und entfalten ihre schädliche Wirkung auf die Gesundheit und die Natur kumulativ über lange Zeiträume. Ihre Anwesenheit in der Umgebung und in den Körpern wird meist erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung durch die Häufung von Krankheiten oder Anomalien, Phänomenen wie einem abrupten Pflanzen- oder Artensterben oder ökonomische Folgen für die naheliegende Bevölkerung, die etwa durch die Degradierung der Böden oder das Verschwinden von Meerestieren (wie im Fall von Chañaral, siehe Kapitel 8) verursacht werden, bemerkt. Um den Zusammenhang nachzuweisen, müssen offiziell anerkannte wissenschaftliche Studien durchgeführt werden. Und auch dann sind Ursachen und Konsequenzen nur sehr schwer in Beziehung zu setzten (siehe hierfür Kapitel 8 zum Fall Chañaral). Andere sozial-ökologische Probleme lassen sich von den Betroffenen hinsichtlich ihrer Ursachen in der Regel viel klarer ausmachen und konfrontieren sie zeitlich meist mit höherer Dringlichkeit.
Dennoch gibt es vereinzelte Momente der Sichtbarkeit von Tailings als sozial-ökologisches Problem in der chilenischen Öffentlichkeit, wie etwa der Einsturz des Tailingbeckens El Soldado in der Folge eines Erdbebens im Jahre 1965. Eine Flutwelle giftiger Flüssigkeiten überrollte damals das Dorf El Cobre und riss 200 Menschen in den Tod. Nebenbei wurde dabei ein Gebiet von hunderten Quadratkilometern irreversibel verseucht. Der Fall Chañaral, der in Kapitel 8 dieser Arbeit detailliert untersucht wird, hat ebenfalls einige Momente einer derartigen medialen Sichtbarkeit erlebt und besonders aufgrund des Ausmaßes der Schäden und der Verantwortung des staatlichen Konzerns Codelco für öffentliches Aufsehen gesorgt. In den letzten Jahren wiesen medizinische Studien zudem hohe Konzentrationen an Schwermetallen in den Körpern von Schulkindern nach, was den Fall erneut ins Licht der Öffentlichkeit rückte (siehe Kapitel 8). Das Tailingbecken von Las Plamas wiederum, das bei einem Erdbeben 2010 nachgab und in der Folge vier Menschen unter sich begrub, wurde Ausgangspunkt des ersten Dokumentarfilms zum Thema der Tailings93 sowie der Gründung der bis heute einzigen NGO, die sich ausschließlich mit diesem Thema befasst (relaves.org). Ein weiterer emblematischer Fall ist der von Andacollo, einer Stadt im Norden Chiles, die durch die höchste Rate an Erkrankungen des Atemsystems aufgefallen ist. Eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen hat dieses Phänomen erforscht und mit der Anwesenheit von 18 Tailings in und direkt rund um die Stadt in Verbindung gebracht (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015:9). Zuletzt geriet auch die Tailingdeponie El Mauro – die größte Lateinamerikas – vermehrt in die Schlagzeilen. Die Tailings, die 2015 sechs Kilometer lang und 250 Meter hoch waren, verschmutztem zuletzt wiederholt Wasserquellen des Dorfes Caimanes im Norden Chiles (ebd.: 11). Die Staumauer weist dauerhaft einen immensen Erdbebenschaden auf, weshalb sie laut offiziellen Messungen bei einem Erdbeben über der Stärke von 7,5 auf der Richterskala zusammenbrechen könnte (ebd.). Das Dorf Caimanes liegt nur acht Kilometer vom Tailingdamm entfernt und würde bei einem Dammbruch gänzlich zerstört werden, weshalb die BewohnerInnen seit Jahren die Schließung und Restaurierung der Tailings fordern (INDH 2016).
Auch bei den starken Überschwemmungen im Norden Chiles in den Jahren 2015 und 2017 wurde das Thema der Tailings kurzeitig in den Medien angesprochen. Diese Überschwemmungen haben zahlreiche Tailingdeponien von aktiven Unternehmen überlaufen lassen und besonders von den ungesicherten, inaktiven oder verlassenen Tailingdeponien große Mengen an giftigen Substanzen mitgerissen. Nach der Umweltkatastrophe der Überschwemmungen von 2015, die 31 Tote und 49 Vermisste hinterließ, berichteten viele der Betroffenen von Juckreiz und Ausschlägen, brennenden Augen oder anderen Beschwerden, die sich vor allem während der Aufräumarbeiten in den überschwemmten Gebieten bemerkbar machten. Alle drei in dieser Forschung untersuchten Fälle (Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral) waren von diesen Ereignissen stark betroffen, ganz besonders die Stadt Chañaral. Durch die Überschwemmungen wurden große Mengen an Blei, Cadmium, Kupfer, Eisen, Quecksilber, Schwefelsäure und Arsen in die Straßen und Häuser vieler bewohnter Gebiete, darunter auch großen Städten wie Copiapó gespült (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015). Dies zeigte sich auch in späteren Untersuchungen der NGO OLCA94 und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die Befunde wurden nach einer anschließenden staatlichen Untersuchung, in der niedrigere Schadstoffbelastungen gemessen wurden, als ungültig dargestellt.
Die aufgeführten Katastrophen stellen allerdings Ausnahmemomente dar, in denen Tailings sichtbar werden. Tailings werden entweder durch einen katastrophalen Unfall oder in seltenen Fällen im Rahmen eines – oftmals zufälligen – wissenschaftlichen Befundes, der die Präsenz von Schwermetallen oder Chemikalien in der Umwelt oder in den Köpern der Betroffenen bestätigt, öffentlich sichtbar. Die sichtbaren Fälle stellen im Vergleich zur Gesamtzahl an als kritisch oder alarmierend eingestuften Tailings kaum ein Bruchteil der tatsächlichen Gesundheits- und Umweltfolgen dar. Die meisten Tailingdeponien erregen nie öffentliches Aufsehen und sind in der Regel keine Ursache eines sozial-ökologischen Konfliktes.
Die Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung mit nahegelegenen Bergwerken hat ihren Ursprung meistens in Verteilungsfragen in Bezug auf Wasserressourcen und in der Überlappung mehrerer Umweltprobleme. Neben der massiven Verschmutzung der Wasserquellen durch Chemikalien und Schwermetalle ist die Austrocknung der Oberflächengewässer sowie des Grundwassers besonders schwerwiegend für die BewohnerInnen und Ökosysteme der nördlichen Gebiete, in denen sich der Bergbau konzentriert. Durch die Konzentration der Wasserrechte sind staatliche Maßnahmen zum Erhalt oder der Erholung der Quellen allerdings kaum möglich (Landherr, Graf & Puk 2019:87). Der Abbau von Metallen und Mineralien trägt einen wesentlichen Anteil zur Knappheit von Wasser und Energie bei.

5.3.2 Die bestehende Regulierung zu Tailings und der Umgang mit Bergbauabfällen

Die Tailings stellen je nach Zusammensetzung, Lagerungsform und -ort unterschiedliche soziale und ökologische Risiken und Herausforderungen dar. Einmal angelegt müssten sie teilweise Jahrhunderte lang instandgehalten und gewartet werden, um die Ausbreitung ihrer toxischen Elemente zu verhindern (Werner Zimmermann PW03, Mitarbeiter des BGR). Die bestehende Regulierung ist allerdings lückenhaft und unzureichend und trifft nur für die ab 2012 neu angesetzten Tailingbecken und -dämme zu. Die große Mehrheit der 758 bekannten Tailingdeponien des Landes bleiben unbehandelt in der Landschaft als Altlasten zurück, wenn das Bergbauunternehmen ein Bergwerk schließt.
Tailings stellen dabei den größten Teil der Altlasten des Bergbausektors dar. Unter solchen Altlasten des Bergbaus (pasivos ambientales mineros) fasst die Asociación de Servicios de Geología y Minería Iberoamericanos (ASGMI95) alle Bergbauinstallationen wie etwa offene Gruben, unterirdische Schacht- und Tunnelanlagen und Gebäude sowie Hinterlassenschaften wie Industrieabfälle, Tailings oder Schlacke (sowie alle anderem Bergbaurückstände) oder betroffene Flächen, Kanäle, Werkstätten, Maschinenparks, Minerallagerstätten sowie alle weiteren Anlagen eines geschlossenen Bergwerks. Diese Hinterlassenschaften eines inaktiven oder verlassenen Bergwerks stellen ein dauerhaftes potenzielles Risiko für die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung, für die Biodiversität sowie für die Umwelt im Allgemeinen dar (Adasme et al. 2010).
Die Altlasten, die das größte Risiko in sich bergen, sind die Tailings. Diese stellen 60 bis 80 Prozent der Altlasten dar (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015). Bei Tailings handelt es sich um ein Nebenprodukt der Aufbereitung der Erze im Bergbau. Die feinkörnigen Rückstände enthalten je nach Mineralien oder Metallen, die aus dem Erz extrahiert werden sollen, unterschiedliche Chemikalien und oftmals giftige Stoffe wie Quecksilber, Arsen, Cadmium, Chrom, Kupfer oder Blei (Yurisch Toledo 2016:8). Das chilenische Umweltministerium definiert Tailings im Decreto Supremo Nr. 248 (entsprechend der heutigen Lagerform) wie folgt: Tailings stellen eine Abfallform dar, die Resultat mehrerer Produktionsschritte der Weiterverarbeitung von Erzen ist. Aus der Mischung aus Feststoffen und Flüssigkeiten, die durch diese entstehen, ergibt sich in den meisten Fällen ein Schlamm (pulpa). Das Konzept kann auch für die reinen Feststoffe, die in diesem Prozess produziert werden, genutzt werden. Als Tailingdeponien werden all jene sicheren Strukturen verstanden, die zur Lagerung der Tailings errichtet und genutzt werden und deren wichtigste Funktion die langfristige, meist endgültige Lagerung der festen Bestandteile der in den Anlagen produzierten und meist durch Wasser weitertransportierten Tailings ist (Ministerio de Minería 2007). Die häufigsten Lagerformen stellen heute Staubecken (embalses) oder Tailingdämme (tranques) dar. Während bei ersteren eine Staumauer errichtet wird, werden zweitere mit den festeren Bestandteilen des Tailings selbst gebaut, was wiederum Unterschiede für ihre physische und chemische Stabilität bedeutet (Yurisch Toledo 2016:6). Je nach Zusammensetzung und Flüssigkeitsgrad werden sie als relaves espesados, bei denen durch einen Sedimentationsprozess ein Großteil des Wassers entzogen wird, relaves filtrados, bei denen durch einen Filtrierungsprozess die Mehrheit des Wassers wieder in den Produktionsprozess geleitet wird oder relaves en pasta, die eine Zwischenform der beiden darstellen, eingestuft (Cámara de Diputado de Chile 2011). Darüber hinaus werden sie zudem nach ihren unterschiedlichen Konstruktionsformen klassifiziert (siehe Yurisch Toledo 2016: 7). Die meisten Tailings in Chile werden in Tailingdämmen gelagert. Bis vor einigen Jahrzehnten wurden die Tailings des chilenischen Bergbaus allerdings mehrheitlich anderweitig entsorgt, wofür besonders häufig Flüsse, Seen, Schluchten und Täler, aber auch direkt das Meer (siehe Kapitel 8 zu Chañaral) genutzt wurde. Im besten Fall wurden sie ungesichert auf größeren Flächen angehäuft, die dann – sobald das Vorkommen aufgebraucht war – zusammen mit den restlichen Bergbauaktivitäten verlassen wurden (Yurisch Toledo 2016:9, siehe auch Kapitel 6 zum Fall Pabellón).
Die zentralen Risiken der Tailings bestehen in der Möglichkeit seiner physischen Instabilität, die zu einem Zusammenbruch der Tailingdeponie sowie der chemischen Instabilität, die zu Dränagen von Säuren und Chemikalien in Böden und Wasserbestände führen kann (Sernageomin 2013). Besonders diese beiden Risiken können schwerwiegende Folgen für die nahegelegene Bevölkerung und die Umwelt haben. Dammbrüche sind gerade in einem erbebenreichen Land wie Chile nicht unwahrscheinlich. Ihre unmittelbare Folge kann die Überflutung bzw. Überschüttung ganzer Landstriche und bewohnter Gebiete durch tonnenweise giftiges Material sein. Langfristig breiten sich die Chemikalien und Schwermetalle zudem auf die Umgebung aus und verändern Ökosysteme, Landschaften, produktive Böden und Wasserquellen auf irreversible Weise. Chemikalien und Schwermetalle können allerdings auch durch ungewollte bzw. unerkannte Dränagen des Auffangbeckens sowie durch Überschwemmungen, starke Winde oder andere Wettereinflüsse teilweise über sehr lange Zeiträume in die Umgebung gelangen und deren BewohnerInnen belasten. Zu den typischen Umweltschäden, die durch Tailings verursacht werden, gehören die Verseuchung der Gewässer mit giftigen Chemikalien, die während des Produktionsprozesses beigemischt wurden oder mit Schwermetallen, die in den Tailings enthalten sind, die Verschmutzung der Böden, die durch giftigen Staub oder verseuchtes Wasser ihre Fruchtbarkeit und ihre Vegetation verlieren sowie zuletzt die Luftverschmutzung der durch Wind, Transport oder den Produktionsprozess selbst aufgewirbelten (Fein)Staubpartikel.
Über den Verdauungstrakt, die Haut oder die Lunge gelangen die Chemikalien – und besonders die Schwermetalle – in die Körper die betroffenen Menschen, Tiere und Pflanzen. Gerade Schwermetalle werden Teil der Nahrungskette und gliedern sich in die Körper von Lebewesen durch Prozesse der Bioakkumulation ein. Sie entfalten dort, je nach der Toxizität, direkten Einfluss auf die physiologischen Vorgänge des Körpers. Sie können in großen Mengen zu Vergiftungen und langfristig auch niedriger dosiert zu schwerwiegenden Krankheiten führen, die je nach Substanz bzw. Überlappung mehrerer Substanzen sehr verschiedene Ausprägungen annehmen (Yurisch 2016:11 ff.; Toro Araos 2017). Da jede Tailingdeponie eine ganz eigene Komposition hat, lassen sich die möglichen gesundheitlichen Folgen ihrer Schadstoffbelastung nicht pauschalisieren. Sie hängen direkt von den einzelnen Komponenten und ihrer Zusammenwirkung ab. Deshalb werden in den Kapitel 6, 7 und 8 die jeweils zu diesen Tailings bestehenden wissenschaftlichen Ergebnisse kurz wiedergegeben und die in ihnen bestehenden Schadstoffe und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Organismus, sowie die möglichen gesundheitlichen Schäden beschrieben.
Durch die großen Mengen an Tailings, die in Chile existieren, handelt es sich bei den Bergbauabfällen um ein massives sozial-ökologisches Problem. Dies gilt noch einmal mehr in Hinblick auf die Zukunft der heutigen Bergbauregionen (Yurisch Toledo 2016). Bewohnte Gebiete und ganze Städte wie etwa Andacollo, Tierra Amarilla, Copiapó oder Arica sind regelrecht von Tailingdeponien umzingelt (vgl. Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015; Landherr & Graf 2022). Die verseuchte Umwelt führt schon heute zur Häufung von akuten Krankheiten (die Komponenten wirken außerdem langfristig krebs-, geschwür- und mutationsfördernd sowie fortpflanzungsgefährdend), einer sehr niedrigen Lebensqualität und daraus folgend zu einer Migration der Bevölkerung. Die Böden, Gewässer und Meeresbuchten sind zudem größtenteils irreversibel verseucht (durch Landwirtschaft oder Fischerei werden die toxischen Substanzen durch die Nahrungsmittel in andere Regionen getragen) und durch ihre Sterilität unbrauchbar für jegliche zukünftige wirtschaftliche Aktivitäten. Die massiven Schäden der ökologischen Kreisläufe und Ökosysteme sind ebenfalls irreversibel. Die Langzeittoxizität der einzelnen Elemente, wie Quecksilber, Arsen, oder Blei, die auch vermehrt in den drei in dieser Forschung empirisch untersuchten Tailings vorkommen, wird von ExpertInnen auf tausende bis hunderttausende Jahre geschätzt. Allein diese Spannbreite und die fehlenden genauen Angaben, bei sonst bis auf vielfache Nachkommerstellen genaue Studienergebnisse, zeugt einmal mehr von dem wissenschaftlich inhärenten Nichtwissen bezüglich der Langzeiteffekte von Schadstoffbelastungen dieser Art (Weinberg 2010; Terram 2003; Sernageomin 2018).
Der Unternehmerverband Consejo Minero gibt sich mit Blick auf die Tailings problembewusst und verweist darauf, dass es besonders die alten Tailings seien, die Unfälle verursachten und di ein großes Problem für das Image der Bergbauunternehmen darstellten. Die großen Bergbauunternehmen hingegen würden ihre Tailings mit Berücksichtigung der höchsten internationalen Standards bauen und seien somit strukturell und chemisch stabil, beteuert Sebastián Donoso (PU03), Vorstandsmitglied des Unternehmensverbandes. Donoso fügt hinzu: „Und dabei geht es nicht um Geld, es geht um, sagen wir, die Lebensfähigkeit der Industrie. Die Industrie weiß, dass ein Dammkollaps oder ein anderes Problem dieser Größenordnung in Frage stellen würde, wie es in Chile mit dem Bergbau weitergeht“ (PU03). Der Staat sei allerdings viel zu permissiv mit den mittleren und kleinen Unternehmen, die oftmals schlechte Umweltpraktiken hätten. Donoso sieht darin ein ideologisches Problem: der Staat und die öffentliche Meinung würde diejenigen in die Mangel nehmen, die erfolgreich sind und sich nicht wirklich um Umweltprobleme zu kümmern: „Es ist viel einfacher, die großen, mächtigen, reichen und ausländischen Player zu beschuldigen“ (PU03). Donoso gibt sich gleichzeitig verständnisvoll, was die Sorgen der lokalen Bevölkerung angeht und berichtet von den vielen staatlichen Auflagen, die der Bergbau einhalten muss, um einen Tailingdamm zu errichten und den Widerstand der Bevölkerung zu umgehen. Dies sei besonders deshalb problematisch für den Sektor, weil die Bergwerke auf der Suche nach neuen Vorkommen auch immer näher an die großen Städte und in den Süden des Landes vordringen. Deshalb würde nun alles auf technologische Innovation gesetzt, um die entstehenden Tailings und die betroffenen Gebiete anschließend zu restaurieren.
Die Lobby der großen (Bergbau)Unternehmen hat es bisher geschafft, ihre Interessen in der Verfassung und Gesetzgebung zu sichern (siehe oben) und alle grundlegenden Reformversuche – bspw. des Wasserkodexes – bisweilen zu verhindern. Die politische Priorisierung des einflussreichen Sektors hat ihm zudem in den letzten Jahrzehnten einen Freifahrtsschein ausgehändigt. So wurde bis 2012 bspw. weder die Entsorgung bzw. Lagerung der durch den Bergbau entstandenen Tailings und Altlasten oder etwa die spätere sichere Schließung der Bergwerke auf irgendeine Weise reguliert. Erst 2010 wurde in Chile das Umweltministerium eingeführt. Die ineffektive und veraltete Form der Evaluación Ambiental bestand weiterhin bis 2013 und wurde erst dann durch das neue System des Sistema de Evaluación de Impacto Ambiental (SEIA) ersetzt (die auch das Gesetz 20.417 berücksichtigt). Obwohl auch dieses System erhebliche Mängel aufweist und die staatliche Kontrolle ihrer Einhaltung mehr als unzureichend ist (besonders wegen fehlenden ökonomischen Mitteln der lokalen Behörden), haben sich gerade die Verschärfungen im Bereich der Umweltregulierung als großes Problem für den Sektor herausgestellt, da die bestehenden Werkzeuge von der Zivilgesellschaft tatsächlich immer häufiger genutzt werden. So erzählt Sebastián Donoso (PU03), ein Vertreter des Consejo Minero, die steigende Zahl an kollektiven juristischen Klagen und gerichtlichen Verfahren gegenüber neuen Bergbauprojekten sei derzeit das größte Hindernis für die Ausweitung des Sektors und stelle eine schwierige Hürde für ausländische Investitionen dar.
Da es bisher keine direkte Regulierung der Tailings im Allgemeinen gibt, müssen Betroffene und die Zivilgesellschaft bei derartigen Klagen derzeit auf folgende bestehende Umweltregulierungen und Bergbaugesetze zurückgreifen:
a)
Artikel 19 Nummer 8 und Artikel 20 der politischen Verfassung von 1980 legen den Umweltschutz fest.
 
b)
Das 2002 erlassene Gesetz 31.333/1926 reguliert die Neutralisierung von Industrieabfällen, gibt allerdings weder die Art der Neutralisierung noch die zu erfüllenden Parameter dafür vor.
 
c)
Das Gesetz 19.30096 von 1994 auf das Recht in einer schadstofffreien Umwelt zu leben (auf Spanisch el derecho a vivir en un ambiente libre de contaminación) stellt den grundlegenden Rahmen zum Schutz und Erhalt der Natur auf. Gleichzeitig werden durch dieses Gesetz die Instrumente und Werkzeuge für diesen Schutz definiert, wie etwa das Sistema de Evaluación de Impacto Ambiental (SEIA – System zur Evaluierung der Umweltbelastung). Das Gesetz sichert zudem den Zugang zur Information bezüglich Umwelt(schäden) und Natur(zerstörung) und legt die Verantwortungen bei Umweltverschmutzung sowie die Kontrollmechanismen und die zuständigen Institutionen und Behörden fest.
 
d)
DS 132/2002 Reglamento de Seguridad Minera (Bergbausicherheitsverordnung) verpflichtet die Unternehmen bei Stilllegung eines Werks zu einem Schließungsplan und sieht die technischen Anforderungen hierfür vor.
 
e)
Gesetz 20.551 von 2011 reguliert die Schließung von Bergwerken und der zugehörigen Anlagen. Dabei ist auch die sichere Lagerung der Tailings und die chemische und physikalische Stabilität der Becken, Dämme oder anderer Lagerformen mitinbegriffen.97
 
Derzeit bestehen allerdings noch wichtige Lücken im Rechtssystem, um Tailings regulieren zu können. Es finden sich keine Richtwerte oder Normen rund um Bodenverseuchung oder die Produktion und anschließende Lagerung oder Freisetzung von festen und flüssigen industriellen Abfallprodukten (Yurisch Toledo 2016:23 ff.). In den meisten Fällen können aufgrund der Rechtslage zudem rechtliche Maßnahmen nicht präventiv eingesetzt werden, sondern erst ergriffen werden, wenn ein Umweltschaden schon eingetreten ist (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015:15). Während aktive Bergbauunternehmen seit 2012 einen Schließungsplan vorlegen und somit Verantwortung für ihre Altlasten übernehmen müssen (obwohl auch hier wichtige Schlupflöcher im Gesetz bestehen, die die meisten Unternehmen rückwirkend davon befreien, siehe Yurisch Toledo 2016:27 f.), trifft dies nicht auf bereits geschlossene Bergwerke zu, selbst wenn deren Unternehmen noch existieren und rechtlich die BesitzerInnen der Tailings feststehen. Auch was die Restaurierung oder Sanierung von Altlasten und insbesondere von Tailings anbelangt gibt es in Chile derzeit weder eine gesetzliche Regulierung noch zuständige Behörden.
Es ist die Aufgabe (und laut Gesetz 19.300 auch rechtliche Zuständigkeit) des chilenischen Staates, sich um die Lösung der mit den Tailings einhergehenden Umweltprobleme zu kümmern (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015:15). Allerdings verfügt der Staat derzeit weder über die finanziellen Mittel oder Instrumente noch über die technischen Kapazitäten, um eine solche Sanierung durchzuführen (Toro Araos 2017). Die Schwäche der öffentlichen Institutionen wird durch eine lückenhafte Regulierung ergänzt. Das Gesetz 20.551 ist das einzige, dass sich explizit mit Altlasten des Bergbaus befasst. Es reguliert diese allerdings erst, wenn das Bergwerk schließt und betrifft nur die aktuell funktionierenden Bergbauunternehmen. Obwohl es seit 2011 ein Gesetz gibt, dass die sichere Lagerung und die Schließung von Tailings reguliert, sei es ein Trugschluss zu glauben, das Problem wäre damit gelöst, erklärt der Forscher Genaro Arrieta (PW04). Nach der Stilllegung eines Bergwerks seien die Unternehmen von weiteren Verantwortungen befreit, während der Staat und die Gesellschaft diese über Jahrtausende warten und überwachen müssten, wenn sie eine Verseuchung oder einen Kollaps vermeiden wollen, so der Experte (PW04). Werner Zimmermann vom BGR ergänzt im Interview: „wenn man die späteren ökonomischen Wartungskosten der Tailings mitrechnen würde, wäre der Bergbau alles andere als ein rentables Geschäft“ (PW03).
Alle vor 1994 beendeten Bergbauaktivitäten wurden samt Tailings und allen Anlagen ohne jegliche Behandlung oder Form der sicheren Schließung stillgelegt. Bis 2010 – das heißt, vor dem Gesetz 20.551 – gab es keine genauen Vorgaben dazu, was eine sichere Schließung überhaupt beinhaltet. Von den bis heute von Sernageomin gezählten 758 Tailings gelten nur noch 112 als aktiv und können einem funktionierenden Unternehmen zugeordnet werden. Dazu kommen noch fünf weitere, die sich derzeit im Bau befinden. Für alle anderen, das heißt die 467 Tailings, die als nicht aktiv und die 174 die als verlassen gelten (Sernageomin 2020), besteht keinerlei Regulierung. Ihre Schadstoffe breiten sich weiterhin ungehindert auf ihre Umgebung aus (Toro Araos 2017). Die lückenhafte Regulierung geht so weit, dass es kein chilenisches Gesetz gibt, das Altlasten oder Tailings als solche überhaupt definieren würde. Den einzigen solchen Versuch stellt der Gesetzesentwurf, der 2002 vom Sernageomin und dem BGR eingereicht wurde und bis heute nicht im Kongress besprochen wurde, dar. Die betroffene Bevölkerung ist den Tailings also ohne konkrete juristische Werkzeuge ausgesetzt.
Sebastián Donoso (PU03) beklagt sich trotz der laxen chilenischen Umweltregulierungen über die Kraft der sozial-ökologischen Bewegungen des Landes: „wenn du dir anschaust, was in den letzten fünf Jahren mit den großen Energie- und Bergbauprojekten passiert ist, kommst du zu einer bedauerlichen Schlussfolgerung, kein einziges wurde bisher zugelassen“ (PU03, das Interview stammt von 2017). Später räumt er ein, dass es ein „paar Ausnahmen“ gibt, in denen es zu einer Zulassung kam. Donosos Analyse ist, dass der Erfolg der Proteste zum Stopp der Großprojekte weniger mit der bestehenden staatlichen Regulierung zu tun habe als mit einer politischen Position, die sich gegen große Megaprojekte richtet und mittlerweile auch das Justizwesen durchdrungen hätte. Obwohl die Ministerien den Bergbau unterstützen würden, seien es die lokalen Behörden und die Staatsbeamten „der dritten Reihe“, die es schaffen würden, die Projekte mit Argumenten des Umweltschutzes zu verhindern: „Die Gerichtsurteile, die diese Projekte lahmgelegt haben, haben weniger mit der Anwendung der Regulierungen zu tun als mit bestimmten Überzeugungen“ (PU03). Die Behörden würden einem wachsenden Widerstand in der Bevölkerung gegen diese großen Projekte nachgeben, obwohl die Investoren alle Umweltstandards einhielten. Zwischen den Ministerien und den anderen Behörden würde in dieser Hinsicht ein „Gespräch der Tauben“ stattfinden: „Die einen reisen durch die Welt und versprechen Inverstoren das Goldene vom Himmel und die anderen verhindern dann eben diese Projekte, die sich an alle Regeln gehalten haben, teilweise mit den absurdesten Argumenten“ (PU03).
Der Beauftragte für nachhaltige Entwicklung des staatlichen Unternehmens Codelco, Sergio Rojas (FU06), sieht in den Tailings ein hohes Potenzial für die lokale Bevölkerung, Gelder als Kompensationen von den Bergbauunternehmen einzufordern. Bergbaugebiete seien oftmals sehr abgelegen – „dort, wo der Staat nicht hinkommt“ – und den Menschen würde es an grundlegender Infrastruktur und Dienstleistungen fehlen. Wenn dann ein Unternehmen kommt, dass einen riesigen Umsatz macht, stellt sich das für die BewohnerInnen als einzige Chance dar, ihre Lebensstandards zu verbessern. Sie fordern von den Unternehmen die Errichtung von Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie neue Straßen oder etwa den Zugang zu Trinkwasser, einem Arzt oder einen bestimmten Spezialisten vor Ort. Besonders beim staatlichen Unternehmen Codelco würden die Menschen dabei oft das Unternehmen mit dem Staat gleichsetzten, so Rojas: „Das Unternehmen wird zum öffentlichen Dienstleister und je präsenter das Umweltthema in der Gemeinde ist, desto stärker wird gefordert […]. Wir [Codelco] werden als Wohlfahrtsstaat umfunktioniert. Und das passiert besonders beim Thema der Tailings“, erklärt Rojas (FU06). Tailings würden als „Monster“ dargestellt. Deswegen würden die AnwohnerInnen alle ihre körperlichen Beschwerden auf die Tailings schieben, aber das sei meistens nicht die Ursache, so Rojas. Die Unternehmensstrategie bestünde dann darin, Allianzen aufzubauen, mit den Bürgermeistern, den Juntas de Vecinos (Nachbarschaftsorganisationen), mit den Dirigentes, um über diese mit der „aufgebrachten Gemeinde“ ins Gespräch zu kommen: „Wenn das Unternehmen den Forderungen dann nachgibt, heißt es wieder, wir hätten die Widerständigen gekauft. Dadurch entstehen wieder viele Irritationen in der Kommunikation zwischen Unternehmen und Gemeinde und Spaltungen innerhalb der Bevölkerung“, führt er fort (FU06). Gleichzeitig erklärt der Unternehmensvertreter aber auch, dass die Sorgen der Bevölkerung ernst genommen werden müssten. Das sei vor allem im Interesse des Unternehmens, da bei den heutigen Prognosen und auch aufgrund der künftigen Intensivierung des Bergbaus die bestehende Umweltbelastung noch gesteigert werden könnte. Besonders die Produktion von Tailings sei unvermeidlich, weshalb die Akzeptanz der AnwohnerInnen eine Grundvoraussetzung für die weitere Arbeit der Unternehmen sei. Mehr als auf die Restaurierung an sich müsste das Unternehmen deshalb auf eine gute Corporate Social Responsability (CSR) Politik setzten, so Rojas (FU06).
Ein weiteres Hindernis für die Lösung der durch Tailings verursachten Umweltschäden besteht in der starken Betonung des Rechts auf Privateigentum in der chilenischen Verfassung. Während die teilweise noch existierenden Bergbauunternehmen zwar bislang nicht rückwirkend für die von ihnen vor 2011 produzierten Tailings verantwortlich gemacht werden können, hat der Staat gleichzeitig keinen Zugriff auf diese Abfalldeponien, da sie Privateigentum eben dieser Unternehmen darstellen, so die Mitarbeiterin des Umweltministeriums, Isabel Contreras (PS01). Da die mit älteren Technologien weiterverarbeiteten Erze teilweise noch große Mengen an Metallen und Mineralien enthalten, wird mit Hinblick auf technologische Innovationen, die die Wiederaufarbeitung der Tailings rentabel machen, heute schon mit Bergbaumüll spekuliert.98 Die verfassungsmäßige Garantie des Privateigentums macht die staatliche Restaurierung – aufgrund der dafür notwendigen Entschädigungen des besitzenden Unternehmens – noch kostspieliger. Statt der Verbesserung der Rechtslage und der Verstaatlichung der Abfälle, die dem Staat die Handlungsmöglichkeit zurückgeben würde, setzte die Regierung von Sebastián Piñera (2018–2022) weiterhin auf die Privatisierung und Kommodifizierung der Tailings. Mit der Kampagne „Adoptier ein Tailings“99 (adopta un relave) wurden neue private Bergbauunternehmen dazu angehalten, in verlassene und inaktive Tailings zu intervenieren, um sich dies als Kompensationsmaßnahme anrechnen zu lassen.100 Wenn die Sanierungs- oder Restaurierungsmaßnehmen es zulassen, können dabei vom Unternehmen die bestehenden Tailings wieder verarbeitet und die in ihnen vorhandenen Metalle extrahiert und verkauft werden. Je nach Tailings kann dieses Verfahren also auch ökonomisch durchaus rentabel für die Unternehmen sein, die dadurch gleichzeitig ein „greening“ ihrer übrigen Aktivitäten betreiben und auf diese Weise das Image ihres Unternehmens verbessern können. Die Kommodifizierung und Wiederaufbereitung des Abfalls wird hierbei als Umweltschutz dargestellt, wobei es auch keine klaren Vorschriften für den Wiederaufarbeitungsprozess und die Handhabung der daraus resultierenden Tailings gibt (oftmals werden sie einfach in andere Tailingbecken inkorporiert).

5.3.3 Tailings: eine besonders schwerwiegende und trotzdem unsichtbare Umweltbelastung

Seit meinen ersten Forschungen zum Thema der Tailings zwischen 2014 und 2015 und meiner darauffolgenden zwei Abschlussarbeiten hat sich bezüglich der Sichtbarkeit der Tailings kaum etwas verändert (siehe Kapitel 3 zu Fragestellung und Thesen). Damals wurde im Rahmen des durchgeführten Forschungsprojekts eine gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings sowie eine generelle Tatenlosigkeit der beteiligten Akteure und ein weitverbreitetes Nichtwissen bezüglich Tailings, besonders unter den Betroffenen diagnostiziert. Genaro Arrieta101 ist neben Sebastián Ureta, Mauricio Folchi, Iván Ojeda oder Fernando Campos einer der wenigen, die seit Jahren zum Thema der Tailings arbeiten. In meinem letzten Interview 2019 mit ihm bestätigte er meine Diagnose einer weiterhin bestehenden Unsichtbarkeit des Themas, trotz des wachsenden Umweltbewusstseins der ChilenInnen in den letzten Jahren, sowie der Zunahme an sozial-ökologischen Konflikten und der Umweltbewegungen:
„Das Problem der Tailings ist, dass sie auf den ersten Anschein Umweltprobleme mit geringer Auswirkung sind, weil diese so schwer zu ermitteln sind […]. Die Symptome und die Toxizität können zwar schwerwiegende Folgen haben, aber oft erst langfristig. Sie zu bestimmen und als von anderen Umweltproblemen getrennt zu begreifen, ist sehr schwierig. Tailings und die Bodenverschmutzung im Allgemeinen sind so etwas wie der arme Bruder der Wasser- und Luftverschmutzung. Die beiden sind immer die großen Prioritäten der Leute, der Medien und auch der sozialen Bewegungen. Böden und vor allem Tailings stehen ganz weit hinten an. Tailings sind konstant und unscheinbar und wenn du daran stirbst, weiß man nie genau, ob du daran gestorben bist oder an etwas anderem. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass das Thema jemals ein öffentliches Anliegen wird. Wenn du dir die Geschichte anschaust, die wenigen Male, in denen das Thema Teil der öffentlichen Debatte geworden ist, war es im Zusammenhang mit großen Katastrophen an denen Tailings beteiligt waren […] nie wegen ihrer alltäglichen Giftigkeit“ (PW04).
Die materielle Unsichtbarkeit der in der nordchilenischen Wüste häufig wenig auffälligen Tailings wird durch das scheinbar statische Erscheinungsbild der Tailings verstärkt. Im Gegensatz zu Wasser oder Luft, die sich dynamisch verhalten, was eine schnellere Wahrnehmung von Veränderungen dieser Bewegungen (bspw. Rauch, Staub, Trübheit oder Farbveränderungen) erlaubt, geben Tailings ihre giftigen Komponenten unbemerkt und langsam, aber konstant über lange Zeiträume ab. Zudem hat kein einziges Tailings dieselbe Komposition wie ein anderes, jede Erzzusammensetzung und in diesem Zuge auch jeder Produktionsprozess ist einzigartig und über die Zeit auch nicht konstant. Das macht auch einen wissenschaftlichen Nachweis der Anwesenheit der giftigen Komponenten notwendig, um das Problem als solches zu diagnostizieren bzw. es überhaupt als Umweltproblem definieren zu können. Messungen wiederum erfolgen meistens erst dann, wenn die Schäden nach langjähriger Exposition schon spürbare Wirkungen entfaltet haben. Selbst bei erfolgreich erhobenen Daten über die Zusammensetzung der Tailings ermöglichen es diese Erkenntnisse in den meisten Fällen noch nicht, die Tailings als Ursache der sichtbargewordenen Schäden auszumachen (siehe Kapitel 8 zum Fall Chañaral). Zudem fehlen in Chile jegliche Richtwerte und Normen, um die erhobenen Daten einstufen und die Tailings als Risikoquelle definieren zu können. Dies ist auch der Grund, warum nur sehr selten Studien durchgeführt werden, die Tailings als Ursache von Gesundheitsschäden nachweisen können, obwohl dies an vielen Orten des Landes versucht wird. Hohe Schwermetallkonzentrationen im Blut der Betroffenen etwa reichen allein nicht aus, um zu beweisen, dass die nahegelegenen Tailings die Ursache für Erkrankungen ist.
Dennoch konnten in den letzten Jahren Untersuchungen unter der Leitung der Ärzte Dr. Andrei Tchernitchin und Dr. Dante Cáceres die Beziehung zwischen Tailings und deren Gesundheitsfolgen im Fall von Chañaral nachweisen (diese sind ausführlich in Kapitel 8 beschrieben). Da die Herstellung einer kausalen Beziehung einer hohen Schwermetallkonzentrationen im Blut und ihrer Ursache wegen der Notwendigkeit langer Expositionszeiträume außerhalb einer experimentellen Situation fast unmöglich ist (von den tatsächlich ausgebrochenen Krankheiten zur Ursache ist es noch schwieriger) und die finanziellen Mittel für eine aufwendige Untersuchung fehlten, hat sich die Untersuchung von Dr. Dante Cáceres bspw. auf die durch Tailings verursachte Luftverschmutzung und Atemwegserkrankungen bei Kindern konzentriert. Besonders diese Studie erhielt mediale Aufmerksamkeit und führte kurzzeitig zur Sichtbarkeit von Tailings als Ursache von schwerwiegenden Gesundheitsproblemen.102 In der gleichen Zeit wurde auch in Arica die massive Quecksilber-, Arsen und Bleivergiftung der Bevölkerung eines Stadtviertels auf giftigen Industriemüll zurückgeführt.103
Die genannten Studien stellen allerdings Ausnahmen dar. Finanziert wurden sie nur, weil es sich bei beiden Forschern um zwei der renommiertesten Toxikologen Chiles handelt. Dabei fiel die Finanzierung für das Vorhaben knapp aus. In der Regel werden unabhängige Studien, die sich kritisch mit dem Bergbausektor auseinandersetzen, weder von öffentlichen noch privaten Geldgebern unterstützt. Dies ist noch weniger der Fall, wenn der Verursacher wie in diesem Fall das staatliche Unternehmen Codelco ist. Dr. Cuevas, ein Kollege der beiden Toxikologen, der ebenfalls an einer den Studien beteiligt war, (CE02) erzählt im Interview, dass er in der Zwischenzeit Angebote und sogar Bestechungsgelder von mehreren großen Unternehmen bekommen habe, sogar Drohungen seien dabei gewesen. Gerade jetzt, wo er an einer kritischen Studie dieser Art mitgewirkt habe, sei seine Expertise für Unternehmen besonders wertvoll geworden, da sie Objektivität ausstrahle (CE02). Viele seiner KollegInnen werden auf diese Weise von den Unternehmen angeworben, teilweise auch um seine eigenen Untersuchungen zu widerlegen. Dafür bekommen sie große Geldsummen, die es ihnen ermöglichen, aufwendigere Untersuchungen durchzuführen, aber vor allem dem Unternehmen die Gewissheit geben, dass die Ergebnisse ihren Interessen entsprechen. ForscherInnen würden solche Angebote meistens nicht nur zum Zwecke persönlicher Bereicherung akzeptieren, sondern aus tatsächlicher finanzieller Not (CE02). Dr. Jedamczik (FW07) wiederum erzählt, wie er, nachdem er Quecksilber, Eisen und Mangan in erhöhten Konzentrationen im Trinkwasser in der Nähe der Tailings El Mauro nachgewiesen hatte, versuchte das Unternehmen Los Pelambres der Familie Luksic dafür rechtlich verantwortlich zu machen. Zuerst bemühte sich das Unternehmen, die Ergebnisse durch „offiziellere“ und „bessere“ Untersuchungen zu widerlegen. Gleichzeitig verklagte es mehrere der Anführer der (Umwelt-) Bewegung, wofür Dr. Jedamczik wiederum als Zeuge geladen wurde. Im Prozess wurde dann das gesamte Privatleben des Arztes aufgerollt, um seine Glaubwürdigkeit als Person infrage zu stellen. Darunter wurden sogar falsche Behauptungen der häuslichen Gewalt herangezogen, die kurz darauf von seiner Exfrau aufgeklärt werden mussten. Da seine wissenschaftlichen Befunde eindeutig waren und er als einer der führenden Toxikologen des Landes großes Ansehen genießt, hätten die Anwälte dieses Vorgehen des Schürens öffentlicher Zweifel an der Integrität seiner Person gewählt, um das Unternehmen zu retten, erzählt er (FW07). In diesem Fall sei die Strategie allerdings nicht aufgegangen, der Tailingdamm sollte abgerissen werden. Ein Jahr später wurde dieses Urteil durch die Ergebnisse einer neuen Untersuchung allerdings aufgehoben.
Die mangelhafte Wissensproduktion im Bereich der Tailings hat nicht zuletzt mit der Prekarität der chilenischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu tun. Die meisten NGO, die auf nationaler Ebene arbeiten, haben große Finanzierungsprobleme und hängen im Wesentlichen von privaten und ausländischen Finanzierungen ab. Auch wenn sie größtenteils inhaltlich unabhängig arbeiten, sind diese Finanzierungen meistens projekt- oder themengebunden, erzählt Fabiola Contreras (PZ04), die Leiterin einer der führenden chilenischen NGO im Bereich des Umweltschutzes. Auch Antonio Peña und Sergio Gaete (PZ05, FZ06), Direktoren anderer NGO, die sich häufiger mit dem Bergbausektor beschäftigen, bestätigen das. Der Fokus der Arbeit dieser NGO liegt auf einem eigens entwickelten Management sozial-ökologischer Konflikte in Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Sie sind dort präsent, wo es zu Konflikten kommt und Probleme sichtbar werden, um vor Ort die Betroffenen zu unterstützen (PZ05). Da es bei Tailings nur sehr selten zu Konflikten kommt, arbeiten die NGO kaum zu diesem Thema. Eine ähnliche Tendenz lässt sich bei allen großen NGO im Bereich des Umweltschutzes – wie etwa Chile Sustentable, Fundación Terram oder Observatorio Latinoamericano de Conflictos Ambientales (OLCA) – ausmachen. Alle haben zwar mindestens eine Publikation zum Thema der Altlasten veröffentlicht, befassen sich aber sonst – außer bei wenigen emblematischen Fällen und Konflikten – nicht mit dem Thema. Auch die internationalen NGO wie Greenpeace oder WWF widmen sich dem Thema der Tailings nicht. Die einzige NGO, die dies gezielt tut, ist die nach dem Tailingdammbruch in Las Plamas von Henry Jurgens, einem der Betroffenen, gegründete NGO Relaves. Ihr Ziel besteht vor allem darin, eine staatliche Regulierung von Tailings zu erkämpfen und die Verbreitung von technischer Information zu verbessern (FZ07, FZ04, FZ05). Hinzu kommen noch vereinzelt lokale NGO wie etwa Chadenatur in Chañaral, die sich spezifisch mit einer bestimmten Tailingdeponie und den sozial-ökologischen Folgen beschäftigen und dafür vollständig auf die ehrenamtliche Arbeit ihrer Mitglieder angewiesen sind (siehe hierfür Kapitel 8 zu Chañaral).
Während es sich für unabhängige WissenschaftlerInnen und zivilgesellschaftliche Akteure als sehr schwer erweist, offiziell anerkanntes wissenschaftliches Wissen über Tailings und ihre Folgen für Umwelt und Menschen zu generieren und auf diese Weise das Problem als solches überhaupt erst definieren zu können, besitzt der Staat hierfür rein theoretisch die technischen und finanziellen Mittel (siehe bspw. das genehmigte Projekt der Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes- CENMA 2012). Aus unterschiedlichen Gründen, die teilweise weiter unten in dieser Arbeit aufgeführt werden (besonders in Kapitel 6 zu Pabellón), werden die Ergebnisse – mit Ausnahme von des Catástros de Relaves Mineros und einiger technischer Berichte des Sernageomin über den Zustand der Tailings (siehe etwa Sernageomin 2013, 2015, 2017, 2020) – nie veröffentlicht und auch keine weiteren Schritte zur Lösung der Schadstoffbelastung durch Tailings unternommen. In manchen Fällen sind die erstellten Berichte plötzlich einfach verschwunden, wie Jens Müller, ein ehemaliger Mitarbeiter des BGR, der an besagter Untersuchung mitgewirkt hat, in einem Interview erzählt. Die Ergebnisse der 2007 durchgeführten Studie seinen beispielsweise für den Staat „zu heiß“ gewesen (PW02, Ausführung in Kapitel 6). In anderen Fällen – wie beispielsweise bei der Guía Metodológica des CENMA (2012) – wurde die Finanzierung inmitten der Forschungsarbeiten beendet. Auch die wenigen veröffentlichten staatlichen Untersuchungen sind nicht frei zugänglich, sondern nur auf eine offizielle Anforderung hin einsehbar. Zwar gibt es in Chile ein Transparenzgesetz (Ley de Transparencia), das es jeder und jedem ermöglicht, die von staatlichen Behörden generierten Informationen zu konsultieren, allerdings muss dafür der genaue Name, Zeitpunkt und die AutorInnen der Untersuchung in einem Formular zur Anfrage der Besichtigung der Dokumente angegeben werden. Im Falle einer Zusage kann die zensierte Version der Untersuchung dann meist in der Hauptstadt Santiago unter Aufsicht begutachtet werden, ohne aber die Möglichkeit zu erhalten, diese Dokumente zu kopieren oder abzufotografieren. Ein solch kompliziertes Verfahren macht es den Betroffenen sehr schwer, selbst Zugang zu diesen Daten zu erhalten und verhindert in der Regel, dass entsprechende Personengruppen die Daten für rechtliche Zwecke oder als wissenschaftlichen Nachweis einer möglichen Verseuchung nutzen können.
Andere staatliche Akteure – wie etwa das Gesundheitsministerium – haben zwar teilweise Daten zum Verseuchungsgrad der BewohnerInnen eines bestimmten Gebiets, können diese allerdings nicht mit den nahegelegenen Tailings in Verbindung bringen: teilweise, weil sie ähnliche Probleme haben, wie die oben beschrieben unabhängigen und privaten Untersuchungen, teilweise weil sie gar nicht über die Existenz des Tailings informiert sind (ausführliche Darstellung in Kapitel 7). Die Epidemiologin Valentina Castillo (FS04), die im Regionalbüro des Gesundheitsministeriums in Copiapó arbeitet, hat zusammen mit einer Kollegin die Bevölkerung in der Region auch auf die Präsenz von Schwermetallen in deren Organismus untersucht. Dabei wurden teils stark erhöhte Blei-, Arsen- und Quecksilberkonzentrationen in den Stichproben gefunden. Die Ergebnisse wurden allerdings nicht veröffentlicht und in den besten Fällen wurde lediglich eine Nachverfolgung der Werte der Betroffenen durchgeführt. Die Erweiterung der Stichprobe in Fällen wie Nantoco oder Tierra Amarilla, die besonders hohe Werte aufwiesen oder Maßnahmen zur Behebung der Kontamination blieben gänzlich aus. Das größte Problem sei einerseits die fehlende Finanzierung für kostspielige Untersuchungen, andererseits die fehlenden Umweltregulierungen und Richtwerte sowie generell fehlende Daten im Umweltbereich, so Castillo (FS04).
Verschärft wird die genannte Problematik des Mangels an klaren Informationen und Normen durch Missstände im Bereich der staatlichen Institutionen, die in dieser Arbeit unter dem Begriff der toxischen Institutionalität gefasst werden. Die weitgehend ausbleibende Kommunikation zwischen den unterschiedlichen staatlichen Behörden, sowie fehlende Klarheit über die Befugnisse und Zuständigkeiten anderer Behörden, sind Probleme, die mir entlang der gesamten Forschungsarbeit sehr oft begegnet sind. Jede Behörde macht ihre eigenen Messungen und Kataster. Teilweise entstehen diese doppelt, sie greifen nicht auf bereits vorhandene Informationen zurück oder können die Daten nicht vergleichen, weil unterschiedliche Richtwerte genutzt werden oder eine fachliche Übersetzung fehlt. Das Umweltministerium etwa berücksichtigte bei der Durchführung der oben beschriebenen, großangelegten Untersuchung weder die demografischen Daten des Ministeriums für soziale Entwicklung und Familie oder der Gemeinde noch die bereits durchgeführten Studien, die der Sernageomin zusammen mit der BGR erstellte, noch die Veröffentlichungen unabhängiger Wissenschaftler der Universidad Atacama wie Cristobal Valenzuela (PW01). Als Folge hatten sie in einem internen Bericht bspw. vermerkt, dass es in Pabellón keine AnwohnerInnen gäbe, was keineswegs der Fall ist (siehe Fall Pabellón Kapitel 6). MitarbeiterInnen des Gesundheitsministeriums wie Valentina Castillo (FS04) beklagen sich wiederum über die mangelnde Zusammenarbeit mit dem Umwelt- und dem Bergbauministerium. Ihnen würden dadurch jegliche technischen Daten zur Zusammensetzung der Tailings an den untersuchten Orten fehlen. Auch die Möglichkeit einer Intervention sei unter diesen Bedingungen für ihre Behörde allein unmöglich, so Castillo (PF04). Eine ähnliche Situation beschreibt auch Willy Mayor (PS10) des Sernageomin und auch andere Behörden verfügen nicht über relevante Informationen bezüglich der Bergbauaktivitäten und Tailings. Italo Pascual (PS03), ein Mitarbeiter des Regionalbüros des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtplanung, erzählt in einem Interview, in Tierra Amarilla würden gerade Sozialbauten auf Tailings entstehen. Neben der Tatsache, dass die Tailings an sich gefährlich sind, lägen sie zudem in einem einsturzgefährdeten Gebiet, da sich die Tunnelanlagen des Bergwerks Candelaria dort befänden. Er habe dies privat nachrecherchiert, da er aus Tierra Amarilla stamme. Sein Hinweis wurde allerdings „von oben abgewunken“. Das Projekt sei schon bewilligt wurde ihm damals gesagt (PS03). Etwas ähnliches geschah nach den Überschwemmungen bei der Errichtung von Sozialbauten in Nantoco. Die fehlende Kommunikation zwischen den Behörden behindert die Weitergabe von Wissen erheblich, wodurch oftmals doppelte Arbeit geleistet wird und auf diese Weise finanzielle und personelle Ressourcen verloren gehen. Vor allem können allerdings auch schwerwiegende Risiken, wie im Fall von Tierra Amarilla, übersehen werden.

5.4 Erstes Zwischenfazit

Das chilenische neoliberale extraktivistische Modell zeichnet sich durch einen hierarchischen Kapitalismus mit einer starken Macht- und Ressourcenkonzentration aus (Schneider 2013; Fischer 2011). Der Bergbau ist für dieses Modell von großer Bedeutung und seine Förderung durch die Machtressourcen der besitzenden Klasse und ausländischen Großunternehmen, der staatlichen Wirtschaftspolitik und den bestehenden internationalen Machtverhältnissen gut abgesichert (Fischer 2011; Matamala 2015; Landherr & Graf 2017). Der extraktivistische Sektor wird zudem durch die internationale Position Chiles im Weltsystem legitimiert und verstetigt, sowie durch internationale Abkommen, Investitionsanreize und rechtliche Absicherung der Unternehmen und deren Einbindung in höchst profitable Wertschöpfungsketten begünstigt (Riquelme 2015; Barriga et al. 2022, Habersang 2016).104 Auf lokaler Ebene werden vorwiegend die teils schwerwiegenden sozial-ökologischen Kosten eines Sektors internalisiert, deren Vorteile und Gewinne einer kleinen Gruppe von AkteurInnen zukommen und deren (in)direkte NutznießerInnen sich in anderen Weltregionen befinden (Landherr & Graf 2019). Diese sozial-ökologischen Kosten werden durch die bestehenden Strukturen (bspw. auch die Rechtlage) und eine Reihe von (Internalisierungs-)Mechanismen abgesichert und legitimiert. Dennoch steigt in den letzten Jahren neben der allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem chilenischen Modell auch die Zahl der sozial-ökologischen Konflikte im Bergbausektor stetig an. Der Widerstand gegen die Internalisierung der Kosten kann sich bisher allerdings selten erfolgreich gegen Bergbauprojekte vor Ort durchsetzen. Die Strukturen und Machtverhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene sind dabei zwar zentral, um zu verstehen, warum bspw. staatliche Akteure keine aktivere Rolle bei der Lösung der (Umwelt-) Probleme vor Ort einnehmen, sie reichen allerdings nicht aus, um zu erklären, warum gerade Tailings – trotz der Dramatik ihrer ökologischen und sozialen Folgen – ein allgemein unsichtbares gesellschaftliches Problem darstellen und nur selten Gegenstand von sozial-ökologischen Konflikten oder Protesten sind.
Obwohl Tailings heute wie in der Zukunft der globalen Bergbauregionen besonders schwerwiegende Konsequenzen für die Bevölkerung und die Natur mit sich bringen, sind sie nicht in großem Stil Gegenstand oder Ursache staatlicher Umweltpolitik oder gesellschaftlicher Konflikte. Während andere durch den Bergbau verursachten Probleme, wie etwa die Wasserknappheit, durch ihre Dringlichkeit und vor allem auch durch die Lobby anderer Wirtschaftssektoren – wie bspw. der Landwirtschaft – eine gewisse öffentliche Präsenz erlangt haben, ist dies bei Tailings nicht der Fall. Dies hat – wie wir gesehen haben – mit mehreren Faktoren zu tun: Erstens genießen Unternehmen in Chile einen großen Handlungsspielraum. Ihr Tun unterliegt kaum staatlicher oder gesellschaftlicher Kontrolle. Dies nutzen Privatunternehmen, um das Thema der Tailings aktiv unsichtbar zu halten (siehe auch Kapitel 7). Zweitens weisen staatliche Behörden und politische Akteure eine generelle inaction gegenüber den Umweltproblemen, die von Tailings ausgehen, auf. Diese Untätigkeit ist teilweise von den bestehenden Rahmenbedingungen und Strukturen vorgegeben (kein rechtlicher Zugang zu den Ressourcen, keine klaren Zuständigkeiten unter den Behörden und wenig Finanzierung zur Durchführung der Programme) und ergibt sich gleichzeitig aus einer Reihe intendierter (der Staat teilt bspw. teilweise die Interessen des Unternehmens Codelco – siehe Kapitel 8) sowie nicht intendierter Entscheidungen und Gegebenheiten (siehe Kapitel 9). Drittens stellt sich die Wissensgenerierung und -verbreitung in Bezug auf die negativen gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen von Tailings auf Mensch und Natur generell als schwierig dar und wird teilweise aktiv von den Unternehmen des Bergbausektors verhindert. Staat und Unternehmen haben dabei – das wird sich am Fall von Chañaral deutlich zeigen – das Wissensmonopol und die Deutungshoheit im Rahmen der wissenschaftlichen Wissensgenerierung. Es sind die einzigen beiden Akteure, die über ein sehr breites und detailliertes, wissenschaftlich generiertes Wissen über die Standorte und die Zusammensetzung der Tailings verfügen, das sie aber in der Regel nicht öffentlich teilen.105 Für die Zivilgesellschaft und besonders für die Betroffenen selbst stellt sich der Zugang zu offiziell anerkanntem Wissen bezüglich der Tailings deshalb als besonders schwierig dar. Sie verfügen nur über wenige Werkzeuge und kaum Finanzierung, um das Problem der Tailings in Chile als solches an die Öffentlichkeit zu bringen oder rechtliche Maßnahmen zu ergreifen. Wie sich dies im Einzelnen äußert, wird im Folgenden anhand der empirischen Fälle dargestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die Tailings eine Achillesferse globaler Güterketten im Bergbausektor darstellen, die gleichzeitig ein nicht zu verhindernder Bestandteil dieser extraktiven Aktivitäten in größerem Stil darstellen sowie andererseits ein enormes Reservoir an sozial-ökologischen Problemen hervorbringt und ein massives Potenzial an gesellschaftlichen Konflikten schaffen. Auf die Frage, warum diese bisher nicht ausbrechen, lege ich im Fortgang dieser Arbeit einen Schwerpunkt. Um dieses zentrale Problem des lateinamerikanischen Extraktivismus im Falle von Chile zu diskutieren, werden im Folgenden mit den Orten Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral drei Fälle empirisch untersucht, in denen jeweils nachweislich eine hohe Umweltbelastung besteht. Dabei wird die oben aufgeführte Heuristik (Kapitel 3) angewandt. Zuvor kommt eine kurze Beschreibung der Region Atacama, in der sich die drei Untersuchungsfälle befinden, sowie zu den drei gewählten Ortschaften, in denen die empirische Forschung durchgeführt wurde.

5.5 Die Bergbauregion Atacama und ihre Tailingdeponien

In Chile konzentriert sich der Bergbau sowohl historisch als auch aktuell in den nördlichen Regionen des Landes. 126 der 149 großen Bergbauvorkommen, die derzeit aktiv sind, befinden sich nördlich der Hauptstadt Santiago (SONAMI 2017). Gut die Hälfte entfallen auf die Regionen Antofagasta und Atacama. Diese Regionen konzentrieren außerdem fast alle Kupfer- und Metallvorkommen, da nördlicher und südlicher vorwiegend Mineralien und Kohle abgebaut werden. In der Region Atacama allein befinden sich 36 Vorkommen (SONAMI 2017). Was die Tailings betrifft ist die Konzentration in den nördlichen Regionen sogar noch stärker, da sich hier auch die Geschichte der Bergbauproduktion widerspiegelt. Von den 758 derzeit gezählten Tailings befinden sich 618 nördlich der Hauptstadt Santiago. 166 davon liegen in der Region Atacama (Sernageomin 2020). Dies und die große Anzahl der besonders giftigen Tailings, die sich laut Zahlen des Umweltministeriums106 durch fehlende Wartung auf die Umwelt ausbreiten, stellen die Hauptkriterien dar, die Forschung für die vorliegende Arbeit in dieser Region durchzuführen. Die Konzentration der Forschung auf diese Region hat sich aber auch durch den bereits existierenden Feldzugang durch frühere Forschungen in Pabellón und die erwähnten forschungsbedingten Vorteile (siehe Kapitel 4), der sich dadurch überschneidenden Akteure –besonders was regionale staatliche Behörden anbelangt– ergeben. Durch eine frühere Zusammenarbeit mit dem chilenischen Umweltministerium bestanden außerdem schon Kontakte zu dem Regionalbüro dieses und anderer Ministerien. Für die Feldforschungen wurden die drei von Tailings besonders betroffenen Ortschaften Pabellón (Kapitel 6), Tierra Amarilla (Kapitel 7) und Chañaral (Kapitel 8) ausgewählt (zur geographischen Lage siehe Abbildung 4.​1 in Kapitel 4), die in den folgenden Abschnitten jeweils näher beschrieben werden. Zudem wurden zahlreiche Interviews auf regionaler Ebene geführt, wobei die meisten Akteure, wie etwa staatliche Behörden, AktivistInnen, Verbände mittlerer Unternehmen, WissenschaftlerInnen und andere ExpertInnen in der Regionalhauptstadt Copiapó angesiedelt sind.
Die Region Atacama misst eine Fläche von 75.176 Quadratkilometern und hat eine Einwohnerzahl von 286.168 (Censo 2017), von denen 150.962 (ebd.) allein in der Hauptstadt Copiapó wohnen. Die ausgedehnte und extrem trockene Atacamawüste bestimmt im Wesentlichen die wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region. Während in den Tälern teilweise noch genügend Wasservorkommen für Landwirtschaft existieren (besonders Trauben- und Olivenanbau), sind die Böden sonst wirtschaftlich weitgehend unproduktiv. In den Anden und den querlaufenden kleineren Gebirgsketten befinden sich allerdings große Metallvorkommen, weshalb der Bergbau und im Besonderen der Kupferabbau die Wirtschaft der Region dominiert. Auch die Geschichte und die historische wirtschaftliche Entwicklung der Region sind stark vom Bergbau geprägt, was sich den großen Mengen an Tailingdeponien widerspiegelt. Im Einzugsgebiet der Regionalhauptstadt Copiapó, wo zwei der drei untersuchten Fälle liegen, ist die Dichte an Tailings so hoch wie sonst in keinem anderen Gebiet Chiles. In den Gemeinden von Copiapó und Tierra Amarilla, die zusammen den am stärksten besiedelten Teil der Region darstellen, befinden sich 123 Tailings. Diese liegen größtenteils in unmittelbarer Nähe zu den bewohnten Gebieten (Sernageomin 2020). Das Gemeindegebiet Tierra Amarilla beherbergt allein 37 davon (ebd.). Fast alle dieser Tailings liegen in unmittelbarer Nähe zu der gleichnamigen, hier untersuchten Kleinstadt. Eines davon sind die ebenfalls untersuchten Tailings von Pabellón, die 22 Kilometer Fluss aufwärts von Tierra Amarilla liegen. In und unmittelbar rund um Chañaral – der dritte untersuchte Fall dieser Arbeit – befinden sich insgesamt sieben Tailingdeponien. Dabei ist der mit Tailings verseuchte Strand, der einen zentralen Gegenstand dieser Untersuchung darstellt, in den offiziellen Zahlen gar nicht miteingerechnet.
Da die Ergebnisse der drei Fallstudien in dieser Forschung aufeinander aufbauen, um anschließend ein möglichst umfangreiches Gesamtbild der gesellschaftlichen (Un-)Sichtbarkeit der Tailings in Chile, sowie des (Nicht-)Wissens über sie und dem Umgang der beteiligten Akteure (in-/actions), mit den von ihnen ausgehenden Schadstoffbelastungen und den daraus resultierenden sozial-ökologischen Problemen, erstellen zu können (siehe Kapitel 9), liegt der Fokus der Forschung auf jeweils unterschiedlichen Aspekten und Akteuren. Deshalb sind die drei folgenden Kapitel 6, 7 und 8 auch jeweils unterschiedlich aufgebaut. Im Folgenden werden kurz einige der zentralen Merkmale und Auswahlkriterien der einzelnen Fälle dargestellt, die es dem/der LeserIn erleichtern sollen, die Darstellung der einzelnen Fälle und das dahinterliegende Forschungsinteresse besser einordnen zu können.107

5.5.1 Auswahlkriterien und Kurzdarstellung der drei Fälle und ihr jeweiliger Forschungsfokus

Der Fall Pabellón (Kapitel 6)
Bei Pabellón handelt es sich um eine kleine Ortschaft rund um historische Tailings bzw. eine Tailingdeponie, die nicht mehr als solche funktioniert und somit aus dem chilenischen Recht und den bestehenden Umweltregulierungen ausgeschlossen ist. Das diesen Tailings zugrunde liegende sozial-ökologische Problem ist – zumindest rein rechtlich – nicht als gesellschaftlich zu lösendes Problem anerkannt. Pabellón steht in dieser Hinsicht repräsentativ für die Mehrzahl der Tailings in Chile bzw. für die derzeit bestehenden 641 verlassenen oder inaktiven Tailingdeponien (Sernageomin 2020). Bei Tailings wie denen von Pabellón gibt es demnach keine anerkannten Verantwortlichen. Wie in Kapitel 6 deutlich werden wird, sind diese Tailings größtenteils über die Zeit hinweg und aufgrund von Erosion mit ihrer Umgebung verschmolzen und nicht mehr von ihr zu unterscheiden. Dies macht sie für die beteiligten Akteure – allen voran die Betroffenen – besonders unsichtbar. Gleichzeitig besteht unter den Betroffen zu diesen historischen Tailings nur wenig Wissen über ihre Existenz oder kein Zugang zu wissenschaftlich generiertem Wissen, was die Herausbildung einer Risikowahrnehmung ihnen gegenüber und deren gesellschaftliche Anerkennung erschwert. Wie in den meisten Fällen der Schadstoffbelastung durch historische Tailings ist auch in Pabellón kein sozial-ökologischer Konflikt vorzufinden. Allerdings stellt Pabellón eine Ausnahme unter den historischen Tailings dar, was die Existenz von wissenschaftlich generiertem Wissen angeht: in diesem spezifischen Fall haben wiederholte Messungen (u. a. vom Umweltministerium selbst) ergeben, dass es sich in Pabellón um eines der giftigsten und schadstoffbelastetsten Tailings Chiles handelt.
In Pabellón kann insbesondere die Mikroebene untersucht werden, um herauszufinden, welche Faktoren, Gegebenheiten, Mechanismen und Akteure dazu beitragen, dass ein Umweltproblem mit einem solchen potenziellen Schadensumfang als solches sowohl lokal als auch gesellschaftlich unsichtbar bleibt. Da ich in einem vorherigen Projekt schon zu diesem Fall gearbeitet habe, konnte hier auch auf bereits erhobenem Material aufgebaut werden. Im Mittelpunkt der Analyse stehen in diesem Fall die materielle Unsichtbarkeit der Tailings, das alltägliche Zusammenleben der BewohnerInnen mit und auf einer Tailingdeponie sowie der Umgang von WissenschaftlerInnen, staatlichen Behörden und BewohnerInnen mit diesen, für sie als risikoreich bekannten, Abfällen. Staatliche Institutionen werden in diesem Fall vor allem bezüglich deren (in)actions gegenüber des konkreten slow violence-Phänomens in Pabellón untersucht. Außer den Betroffenen, den zuständigen staatlichen Behörden und vereinzelten WissenschaftlerInnen konnten keine weiteren relevanten Akteure in diesem Fall identifiziert werden. Die Analyse der bestehenden Machtstrukturen, Aushandlungsprozesse und Interessenskonflikte auf (national)staatlicher Ebene werden hier höchstens angedeutet und sollen in den nächsten zwei Fällen (Tierra Amarilla und Chañaral) untersucht werden, da bei diesen jeweils ein höherer Sichtbarkeitsgrad erreicht wurde und u. a. noch ein aktives Unternehmen als (potenzieller) Verantwortungsträger vorhanden ist. Außerdem spielen in den darauffolgenden Fällen auch Medien, Zivilgesellschaft und internationale Organisationen eine bedeutendere Rolle.
Der Fall Tierra Amarilla (Kapitel 7)
Tierra Amarilla ist eine Kleinstadt, die vom Bergbau lebt und von 15 Bergbauunternehmen direkt umgeben ist. Der Fall steht repräsentativ für die 112 chilenischen Tailings, die an ein aktives Bergwerk gebunden sind (Sernageomin 2020), die gleichzeitig die einzigen sind, die derzeit eine rechtliche Grundlage besitzen. Eines der Unternehmen vor Ort – Candelaria – gehört zur Gran Minería del Cobre, also zu den größten Bergbauunternehmen Chiles. Die Grube des Tagebaus ist um vielfaches größer als die gesamte Ortschaft und die Tailings verteilen sich überall rund um Tierra Amarilla, wobei die des Unternehmens Candelaria mit Abstand am auffälligsten sind. Sie haben teilweise sogar ganze „Berge“ neu erschaffen und die Physionomie des Tals verändert. Auch ein großes Stollen-/Tunnelsystem unter der Kleinstadt ist Teil der Mine und macht zusammen mit den ständigen Explosionen, dem extremen Wassermangel, der Luftverschmutzung der Gießerei Paipote und anderen Umweltverschmutzungsquellen die Umweltprobleme in Tierra Amarilla, im Gegensatz zu Pabellón, unübersehbar. Auch die bestehende Rechtslage ist bei der Regulierung von Tailings, die einem aktuell funktionierenden Unternehmen wie Candelaria angehören, zuständig. Trotz wiederkehrender Proteste und sogar kollektiven Rechtsklagen seitens der Betroffenen legt sich der sozial-ökologische Konflikt rund um das Thema immer wieder.
In Tierra Amarilla kann besonders der (lokale) Umgang der Bergbauunternehmen mit dem Phänomen der Tailings sowie deren Machtressourcen und angewandte Strategien, Mechanismen und Netzwerke durch das Zusammenwirken mit anderen Akteuren untersucht werden. Da sich allein in dieser Gemeinde 37 staatlich bekannte Tailings befinden (Sernageomin 2020), kann auch der Umgang der staatlichen Behörden und anderer Akteure, wie der Zivilgesellschaft oder den (lokalen) Medien gegenüber Tailings gut beobachtet werden. Während im Allgemeinen ein lokal abwesender Staat vorzufinden ist, ist das Bergbauunternehmen allgegenwärtig und dominiert so gut wie alle Lebensbereiche der Ortschaft. Der bestehende sozial-ökologische Konflikt bleibt latent und verlässt die lokale Ebene nicht. An diesem Fall können demnach besonders gut jene Faktoren der (Un)Sichtbarkeit untersucht werden, die auf der Mesoebene stattfinden.
Der Fall Chañaral (Kapitel 8)
Es handelt sich im Falle der Kleinstadt Chañaral um einen der wenigen, durch Tailings verursachten, Umweltskandale, die eine breite gesellschaftliche Sichtbarkeit erlangt haben. Schon Mitte des letzten Jahrhunderts wurden diese Tailings unter den Betroffenen als sozial-ökologisches Problem wahrgenommen und in den 1980er Jahren ein Gerichtsstreit gegen das Unternehmen gewonnen, was wiederum eine historische Prämiere in Chile darstellt. Auch auf internationaler Ebene hat bspw. die UNO den Fall Chañaral als eine der größten Umweltkatastrophen des ganzen Pazifikraums deklariert (Cortés 2014). Verursacht wurden die Tailings teilweise vom staatlichen Unternehmen Codelco, weshalb der Zentralstaat und auch wissenschaftliche Institutionen in diesem Fall eine andere und viel aktivere Rolle spielen als in den zwei vorherigen Fällen. Es handelt sich um einen der wenigen Fälle, der auf lokaler Ebene einen starken sozial-ökologischen Konflikt ausgelöst hat, dadurch öffentliche Sichtbarkeit und Anerkennung erlangt hat und dann auf nationaler Ebene aktiv unsichtbar gemacht wurde. Der einst manifeste sozial-ökologische Konflikt ist heute nur noch latent vorhanden. Chañaral ist dennoch ein Ausnahmefall, in dem die Tailings auf nationaler Ebene sichtbar geworden sind. Deshalb sind hier neben den Betroffenen, dem Unternehmen und staatlichen Behörden, sowohl lokale als auch nationale Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen vorzufinden. Wie in den beiden Fällen davor spielt die Wissenschaft auch hier eine wichtige Rolle.
Der Fall von Chañaral ist in vielerlei Hinsicht zur Untersuchung der Mechanismen und Strukturen, die zur (Un-)Sichtbarkeit, der durch Tailings verursachte Umweltprobleme beitragen, besonders interessant. An diesem Fall kann einerseits besonders gut der Umgang staatlicher Institutionen und Behörden mit Tailings und ihre Rolle in der (Un)Sichtbarmachung des Problems analysiert werden, sowie die Rolle der überregionalen Zivilgesellschaft, die nur in diesem Fall präsent ist. In diesem Fall kann außerdem das Phänomen der temporären Sichtbarkeit und der Prozesse der (Un)Sichtbarkeit analysiert und untersucht werden welche Faktoren im Laufe der Zeit zur wiederkehrenden gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings aus Chañaral beigetragen haben. Im Mittelpunkt steht hier deshalb auch, anders als in den anderen beiden Fällen, der historische Prozess der (Un-)Sichtbarwerdung und -machung der Tailings selbst, da hierdurch Mechanismen aufgezeigt werden, die bei einem statischen Bild der heutigen Situation nicht analysiert werden könnten. An diesem Fall lässt sich zudem die Makroebene in die Analyse miteinbeziehen, da die Geschichte von Chañaral teilweise auch die Wirkung der juristischen, politischen und internationalen Rahmenbedingungen auf die gesellschaftliche (Un-)Sichtbarkeit der Tailings aufzeigt.
Anders als die beiden vorherigen Fälle ist das Kapitel zu Chañaral, um die Prozesshaftigkeit der (Un-)Sichtbarwerdung besser darstellen zu können, größtenteils entsprechend des historischen Ablaufs der Geschehnisse gegliedert. Grund dafür ist, dass die Tailings in diesem Fall immer wieder zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wechseln, da dieser Fall mehrmals die allgemeine öffentliche Aufmerksamkeit erlangt hat und als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen wurde und dennoch bis heute weiterhin besteht. Dabei sind die mit den Tailings einhergehenden sozial-ökologischen Probleme zudem immer wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Die Untersuchung dieses Falls ermöglicht es demnach, die Faktoren und Mechanismen zu identifizieren, die zu deren wiederholten (Un-)Sichtbarkeit führen und zu erforschen, wie die unterschiedlichen beteiligten Akteure mit einem manifesten sozial-ökologischen Konflikt im Rahmen eines slow violence-Phänomens umgehen.
In jedem der drei Fälle stehen somit unterschiedliche Akteure im Mittelpunkt der Analyse, um deren (in)actions sowie die bestehenden materiellen und sozialen Gegebenheiten erfassen zu können und die Mechanismen und Strukturen zu identifizieren, die die weitere Sichtbarkeit, der durch Tailings bedingten Umweltprobleme verhindern oder begünstigen. Während in Pabellón und Chañaral auch die Entstehungsgeschichte der Industrieabfälle relevant ist, um sowohl Phänomene wie das kollektive Vergessen als auch Prozesse der (Un)Sichtbarwerdung und der aktiven (Un-)Sichtbarkeitsmachung aufzeigen zu können, ist in Tierra Amarilla vor allem das aktuelle Zusammenspiel der beteiligten Akteure relevant, um die Mechanismen herauszuarbeiten, die in diesem Fall zur Unsichtbarkeit der Tailings führen. Die durch die Fälle selbst bedingte unterschiedliche Fokussierung auf bestimmte Gegebenheiten, Akteure, Mechanismen, Strukturen und Prozesse erklärt wiederum – wie bereits erwähnt – den unterschiedlichen Aufbau der drei folgenden Kapitel. Da es sich nicht um eine komparative Forschung handelt und die Ergebnisse der drei Fälle aufeinander aufbauen, war es für das vorliegende Forschungsinteresse relevant auf diese Weise die spezifischen Faktoren der (Un)Sichtbarkeit in den drei Fällen hervorzuheben und zu vertiefen, um diese dann anschließend in Kapitel 9 gemeinsam zu analysieren.
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Fußnoten
1
Vereinzelte, kurze Abschnitte dieses Kapitels wurden in folgenden Artikeln in abgeänderter Form bereits veröffentlicht: Landherr & Graf 2017,2021; Landherr, Graf & Puk 2019; Landherr 2018; Graf & Landherr 2020.
 
2
Ausnahme ist das staatliche Bergbauunternehmen Codelco.
 
3
Siehe etwa La Tercera (2020, 17. Oktober): La minería, motor de la economía, [online] https://​www.​latercera.​com/​opinion/​noticia/​la-mineria-motor-de-la-economia/​OWNXG4M345HE7KZI​WLFDS2XVVU/​ [14.06.22].
 
4
Die chilenización des Kupfers beschreibt einen Prozess, der durch das 1966 unter der Regierung des Präsidenten Eduardo Frei Montalva erlassenen Gesetztes ley 16425 eingeleitet wurde, durch das der chilenische Staat einen Prozentsatz der Aktien aller großen ausländischen Bergbauunternehmen erwarb, was es ihm ermöglichte, eine größere Kontrolle über diese Unternehmen auszuüben.
 
5
Es handelte sich dabei um ein Austauschprogramm zwischen der Universidad Católica de Chile und der University of Chicago.
 
6
Chile ist dabei kein Ausnahmefall im lateinamerikanischen Subkontinent. Es waren auch länderübergreifende Operationen wie die Operación Condor üblich.
 
7
Einige von ihnen haben bis heute wichtige politische Positionen inne oder direkte familiäre Verbindungen zu heutigen AmtsinhaberInnen. So ist etwa der Bruder des letzten Präsidenten Sebastián Piñera, der Hauptideologe des in der Militärdiktatur entstandenen Rentensystems der AfP, einer von ihnen.
 
8
Derzeit ist Chile im sogenannten Proceso Constituyente, durch den eine neue Verfassung erstellt werden soll. Im September 2022 soll in einem Volksentscheid darüber abgestimmt werden, ob sie die Verfassung von 1980 ersetzen soll.
 
9
Sowie auch die personelle Weiterführung wichtiger politischer Posten. So blieb Pinochet selbst bis 1998 Oberbefehlshaber der Armee und bis kurz vor seinem Tod Senatsmitglied.
 
10
Der bis Anfang 2022 regierende Präsident Sebastián Piñera etwa ist laut Forbes auf Platz 5 der reichsten ChilenInnen. Siehe Forbes Chile (2022, 5. April): Lista Forbes: conoce las fortunas más grandes de Chile en 2022,[online] https://​forbes.​cl/​editors-pick/​2022-04-05/​lista-forbes-conoce-las-fortunas-mas-grandes-de-chile-en-2022/​ [14.06.22].
 
11
Gobierno de Chile, Ministerio de Relaciones Económicas Internacionales: Acuerdos económico – comercioales vigentes, [online] https://​www.​subrei.​gob.​cl/​acuerdos-comerciales/​acuerdos-comerciales-vigentes/​ [03.02.2022].
 
12
Originalzitat»Los ricos de Chile tienen el ingreso de los ricos de Alemania y los pobres el de Mongolia.
« In: El Mostrador vom 27.10.2019, [online] https://​www.​elmostrador.​cl [03.03.22].
 
13
El Mostrador (2022, 21. Februar): Riqueza extrema: Chile, el país donde los ultrarricos tienen el patrimonio más grande de América Latina, [online] https://​www.​elmostrador.​cl/​destacado/​2022/​02/​21/​riqueza-extrema-chile-el-pais-donde-los-ultrarricos-tienen-el-patrimonio-mas-grande-de-america-latina/​ [14.06.22].
 
14
Diese neun Ultrareichen sind vorwiegend im Finanzwesen, dem Bergbau, dem Forstsektor und dem Retail aktiv (Quelle siehe letzte Fußnote).
 
15
Für die nationalen Unternehmen ist bei dieser Allianz besonders der Import von Know-how relevant, während die transnationalen Unternehmen von den Machtressourcen und den Möglichkeiten der politischen Einflussnahme der nationalen besitzenden Klasse profitieren (Fischer 2011).
 
16
Traditionelle Organisationsformen der ArbeiterInnenbewegung wurden in der Militärdiktatur zerschlagen und bis heute gilt ein restriktives Streik- und Verhandlungsrecht (Fischer 2011:141).
 
17
Gobierno de Chile, Dirección del Trabajo (2022, 26. Februar): ¿Cuál es el valor del ingreso mínimo mensual?, [online] https://​www.​dt.​gob.​cl/​portal/​1628/​w3-article-60141.​html [29.3.22].
 
18
Vgl. „Aranceles universitarios chilenos son los más caros del mundo después de estados.
unidos“, elmostrador.cl (21.8.2011).
 
19
Durchgesetzt wurde es vom damaligen Arbeitsminister, José Piñera, ehemaliger Chicago Boy und Bruder des heutigen Präsidenten Sebastián Piñera.
 
20
Angehörige des Militärs und der Polizei verfügen über ein eigenes Rentenprogramm im Umlageverfahren. Ihre Renten sind im Mittel fünf Mal höher als die Durchschnittsrente der restlichen Bevölkerung (Gálvez & Kremerman 2021).
 
21
Arrellano, Alberto in CIPER Chile (2018, 11. Dezember): AFP: Radiografía a los $347 mil millones de utilidades netas que obtuvieron en 2017, [online] https://​www.​ciperchile.​cl/​2018/​12/​11/​afp-radiografia-a-los-347-mil-millones-de-utilidades-netas-que-obtuvieron-en-2017/​ [14.06.22].
 
22
Deutsche Welle (2019, 28. November): Las AFP: ¿Cómo funciona el cuestionado sistema de pensiones chileno?, [online] https://​learngerman.​dw.​com/​es/​las-afp-c%C3%B3mo-funciona-el-cuestionado-sistema-de-pensiones-chileno/​a-51455143 [14.06.22].
 
23
Universidad San Sebastián (2019): XXIV Informe de Deuda Morosa Primer Trimestre 2019, [online] https://​resources.​uss.​cl/​upload/​sites/​12/​2019/​05/​XXIV-Informe-de-Deuda-Morosa.​pdf [29.5.2022].
 
24
Die Zahlen wurden nach dem Stand des chilenischen Pesos am 7.9.2019 umgerechnet.
 
25
La Tercera (2015, 18. Juli): DL 701: En 40 anos 70 % de aportes fueron a grandes forestales, [online] https://​www.​latercera.​com/​noticia/​dl-701-en-40-anos-70-de-aportes-fueron-a-grandes-forestales/​ [12.06.22].
 
26
Die Ley de inversiones extranjeras oder Decreto de Ley 600 verspricht den InvestorInnen.
große legale Sicherheit und Steuererleichterungen.
 
27
Dies hat zur Folge, dass eine Person, die ein Grundstück besitzt, keinen Anspruch auf die Nutzung der anliegenden Gewässer hat, während externe Personen, die die Wasserrechte besitzen auch das exklusive Nutzungsrecht besitzen. Wasser und Boden werden in Chile separat gehandelt.
 
28
Anfang 2022 wurde erstmals eine wichtige Reform des Wasserkodexes durchgeführt, die den menschlichen Konsum priorisieren und die Wasserrechte zeitlich begrenzen soll. Allerdings ist diese Gesetzesänderung noch nicht in Kraft getreten und hatte auch in der Zeit der Durchführung und Auswertung dieser Forschung keine Relevanz. Siehe: República de Chile, Senado (2022, 12. Januar): Actualización del Código de Aguas a ley: Senado respaldó por unanimidad la iniciativa, [online] https://​senado.​cl/​actualizacion-del-codigo-de-aguas-a-ley-senado-respaldo-por-unanimidad [22.02.22].
 
29
Eigene Berechnung auf Basis der Zahlen des Observatory of Economic Complexity (2015): atlas.media.mit.edu/en/.
 
30
Eigene Berechnung auf Basis der Zahlen des Observatory of Economic Complexity (2015): atlas.media.mit.edu/en/.
 
31
Siehe etwa Meller, Patricio (2018): EL ROL DEL COBRE PARA QUE CHILE ALCANCE EL PLENO DESARROLLO, [online] https://​www.​aminerals.​cl/​media/​4958/​antofagasta-minerals_​sintesis-el-rol-del-cobre-para-que-chile-alcance-el-pleno-desarrollo.​pdf [14.06.22].
 
33
Es heißt dabei von offizieller Seite unter der ehemaligen Regierung Piñera symptomatisch: „El agua se pierde en el mar“ (übers.: Das Wasser geht ins Meer verloren). Dieser Satz wurde hegemonial gesetzt und steht für einen instrumentellen Umgang mit der Natur, der die Stoffströme nicht den natürlichen Kreisläufen überlassen möchte. Siehe: El Desconcierto (2020, 7. Juli): El agua del río se pierde en el mar, [online] https://​www.​eldesconcierto.​cl/​bienes-comunes/​2020/​07/​07/​analisis-el-agua-del-rio-se-pierde-en-el-mar.​html [3.5.2022].
 
34
Pura Noticia (2015, 18. Februar): Ex ministro de Agricultura, Luis Mayol: “El 84 % del agua en Chile se pierde en el mar”, [online] https://​www.​puranoticia.​cl/​noticias/​nacional/​ex-ministro-de-agricultura-luis-mayol-el-84-del-agua-en-chile-se-pierde-en-el-mar/​2015-02-18/​092341.​html [18.02.22].
 
35
Dieses Beispiel wurde schon in einem 2019 erschienenen Buchkapitel genutzt, siehe Landherr & Graf 2017.
 
36
CIPER Chile (2021, 10. April): Elite: sus conflictos internos y su compleja relación con la ciudadanía, [online] https://​www.​ciperchile.​cl/​2021/​04/​10/​elite-sus-conflictos-internos-y-su-compleja-relacion-con-la-ciudadania/​ [14.06.22]. Siehe auch CIPER Chile (2020, 1. November): “El modelo con el que la elite controlaba la sociedad ha dejado de funcionar”, [online] https://​www.​ciperchile.​cl/​2020/​10/​31/​el-modelo-con-el-que-la-elite-controlaba-la-sociedad-ha-dejado-de-funcionar/​ [14.06.22] sowie El Mostrador (2020, 31. Oktober): La radicalización ideológica de la élite y la moderación callejera en Chile, [online] https://​www.​elmostrador.​cl/​noticias/​opinion/​columnas/​2020/​10/​31/​la-radicalizacion-ideologica-de-la-elite-y-la-moderacion-callejera-en-chile/​ [14.06.22].
 
37
El Desconcierto (2020, 8. März): Coordinadora 8M cifra en 2 millones las asistentes a la multitudinaria marcha de este domingo, [online] https://​www.​eldesconcierto.​cl/​8m/​2020/​03/​08/​fotosvideos-coordinadora-8m-cifra-en-2-millones-las-asistentes-a-la-multitudinaria-marcha-de-este-domingo.​html [18.3.2022].
 
38
La República (2019, 14. Dezember): Chile: 64,9 % está de acuerdo con que continúen las movilizaciones, [online] https://​larepublica.​pe/​mundo/​2019/​12/​14/​chile-encuesta-revela-que-el-649-esta-a-favor-de-las-protestas-atmp/​ [14.06.22].
 
39
Gemeint ist die Wenufoye, auf die sich wichtige Mapuche-Organisationen im Jahr 1992 als Fahne einigten.
 
40
Hier ist anzumerken, dass es sich allein um jene Konflikte handelt, die eine öffentliche Aufmerksamkeit erreicht haben. Auf lokaler Ebene bestehen weit mehr Konflikte, als es die offiziellen Zahlen widerspiegeln.
 
41
Siehe: https://​mapaconflictos.​indh.​cl, Zugriff: 8.6.2020.
 
42
Für das Verständnis von struktureller und territorialer Macht, vgl. Silver 2003; Landherr & Graf 2017; Landherr & Graf 2021.
 
43
Für eine detaillierte Untersuchung der systemerhaltenden Mechanismen der unterschiedlichen Machtressourcen der besitzenden Klassen Chiles vgl. Landherr & Graf 2017. Im Laufe der Forschung haben sich diese Machtressourcen als zentral für das Verständnis der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings erwiesen. Sie wurden allerdings nicht ausführlicher in der Operationalisierung dieser Arbeit behandelt, da ihre Erforschung anfangs außerhalb des untersuchbaren Rahmens erschien und sich ihre Relevanz auch auf lokaler/regionaler Ebene erst im Laufe der Forschung herauskristallisiert hat.
 
44
World Energy Trade (2021, 24. Mai): Los cinco principales países productores de cobre del mundo, [online] https://​www.​worldenergytrade​.​com/​metales/​cobre/​los-cinco-principales-paises-mineros-de-cobre-del-mundo [03.02.2022].
 
45
Derzeit sind es 54 Prozent. China allein ist Abnehmer von fast 45 Prozent der chilenischen Exporte. Siehe Aduanas de Chile/Chilenischer Zoll (2021, 4. März): Minería impulsa exportaciones chilenas en febrero: aumentaron 24,8 %, [online] https://​www.​aduana.​cl/​mineria-impulsa-exportaciones-chilenas-en-febrero-aumentaron-24-8/​aduana/​2021-03-04/​132318.​html [14.06.22].
 
46
Eigene Berechnung auf Basis der Daten von INDH 2017.
 
47
Nach einem vierjährigen Einbruch dieser Zahlen steigen diese seit 2018 wieder stetig an.
 
48
Consejo Competencia Mineras (2019): Fuerza Laboral de La Gran Mineria Chilena 2019–2028, [online] https://​fch.​cl/​wp-content/​uploads/​2021/​04/​fuerzalaboral201​9-2028.​pdf [14.06.22].
 
49
Aduanas de Chile/Chilenischer Zoll (2021, 4. März): Minería impulsa exportaciones chilenas en febrero: aumentaron 24,8 %, [online] https://​www.​aduana.​cl/​mineria-impulsa-exportaciones-chilenas-en-febrero-aumentaron-24-8/​aduana/​2021-03-04/​132318.​html [14.06.22].
 
50
Consejo Competencias Mineras (2021): Fuerza Laboral de la Gran Minería Chilena 2021–2030. Diagnóstico y recomendaciones, [online] https://​fch.​cl/​wp-content/​uploads/​2021/​12/​FuerzaLaboral202​1-2030_​espan%CC%83ol.​pdf [14.06.22].
 
51
Lithium ist von solcher Relevanz, dass der damals noch amtierende Präsident Sebastián Piñera als eine seiner letzten Amtshandlungen noch die Vergabe von Abbaurechten von insgesamt 400 Tausend Tonnen an fünf große Privatkonzerne versuchte, bevor der neue Präsident Gabriel Boric sein Versprechen einer Nationalisierung des Rohstoffs wahrmachen konnte.
 
52
Die Finanzierung des Militärs durch den Kupferabbau ist seit 1975 durch die Ley Reservada del Cobre vorgesehen. Dabei sollen mindestens zehn Prozent der Gewinne von Codelco an das Militär gehen, geringstenfalls allerdings 180 Millionen US-Dollar. Reichen die Gewinne dafür nicht aus, muss das staatliche Unternehmen die Mindestsumme dennoch zahlen.
 
53
La Tercera (2019, 24. Juni): 75 % de los excedentes generados por Codelco en los últimos cinco años fueron a las FFAA, [online] https://​www.​latercera.​com/​pulso/​noticia/​75-los-excedentes-generados-codelco-los-ultimos-cinco-anos-fueron-las-ffaa/​712691/​ [03.02.2022].
 
54
Mit Ausnahme von Codelco, das allerdings, wie schon beschrieben, vom Staat vor dem Bankrott „gerettet“ werden musste und besonders dem Militär Vorteile verschafft.
 
55
Red Digital (2021, 6. Juni): Royalty Minero: La Ronda del Lobby Feroz, [online] https://​reddigital.​cl/​2021/​06/​06/​royalty-minero-la-ronda-del-lobby-feroz/​ [02.03.22].
 
56
Siehe letzte Fußnote.
 
57
Die Zahl der indirekt Beschäftigten wird oft genutzt, um die politische Förderung des privaten Bergbaus zu legitimieren. Rein statistisch gesehen gibt es diese Form der „Angestellten“ größtenteils nicht als solche. Siehe Claude Marcel (2005, 14. Juni): Minería y empleo directo, [online] https://​www.​olca.​cl/​oca/​chile/​region03/​empleo01.​htm [15.06.22]. So wird argumentiert, dass mit jedem formellen Arbeitsplatz im Bergbau weitere 3,7 Arbeitsplätze entstehen würden. Siehe Diario Estrategia (2018, 10. Apirl): Por cada empleo que crea la minería en Chile, otros 3,7 son generados de manera indirecta, [online] http://​www.​diarioestrategia​.​cl/​texto-diario/​mostrar/​1050063/​cada-empleo-crea-mineria-chile-otros-37-generados-manera-indirecta [15.06.22].
 
58
Diese Arbeitsplätze sind in Chile äußerst begehrt, da eine Karriere im Bergbau für viele eine der wenigen Chancen für den sozialen Aufstieg und den Zugang zum privaten Gesundheits- und Bildungssystem darstellt (Landherr & Graf 2021).
 
59
World Energy Trade (2021, 24. Mai): Los cinco principales países productores de cobre del mundo, [online] https://​www.​worldenergytrade​.​com/​metales/​cobre/​los-cinco-principales-paises-mineros-de-cobre-del-mundo [03.02.2022].
 
61
Das chilenische Unternehmen SQM kontrolliert allein 19 Prozent des derzeitigen Abbaus (Cochilco 2020b).
 
62
Dies wurde auch auf dem jährlichen Gipfel des IWF und der Weltbank 2015 festgehalten. Auch die CEPAL hat in ihrem Jahresbericht 2018 auf die starke Abhängigkeit der chilenischen Wirtschaft von den Preisschwankungen des Kupfers auf dem Weltmarkt hingewiesen. Siehe CEPAL (2018): Balance preliminar de las Economías de América Latina y el Caribe, [online] https://​repositorio.​cepal.​org/​bitstream/​handle/​11362/​44326/​128/​BPE2018_​Chile_​es.​pdf [15.06.22].
 
63
Laut des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie gehört Deutschland heute zu den weltweit größten Rohstoffkonsumenten und ist in hohem Maße von deren Importen abhängig. Siehe: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Moderne Industriepolitik, [online] https://​www.​bmwi.​de/​Redaktion/​DE/​Dossier/​moderne-industriepolitik​.​html [17.12.2019].
 
64
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Rohstoffe – unverzichtbar für den Zukunftsstandort Deutschland, [online] https://​www.​bmwi.​de/​Redaktion/​DE/​Dossier/​rohstoffe-und-ressourcen.​html. [17.12.2019].
 
65
Siehe offizielle Website des German Mining Network: http://​www.​germanmining.​net [17.12.19].
 
66
Mittelgroße Unternehmen und besonders die kleinen selbständigen Pirquineros stellen heutzutage mit Blick auf die Gesamtproduktion nur noch eine Randerscheinung dar.
 
67
Siehe offizielle Website des Consejo Minero: https://​consejominero.​cl [15.06.2022].
 
68
Informelle Politikberatung unterliegt in Chile keinerlei Einschränkungen oder Transparenzverpflichtungen (Matamala 2015:166 f).
 
69
Auf diese Weise ist es den Unternehmen bspw. gelungen, die Reform des Wasserkodexes bisher zu unterbinden oder Abbaurechte in Gletscherregionen durchzusetzen.
 
70
Besonders im Bereich Umwelt und Bergbau sind wechselnde Posten zwischen öffentlichen Ämtern und Führungspositionen in privaten Unternehmen mit starken Interessenskonflikten üblich (siehe Skoknic 2014; Matamala 2015:141 f).
 
71
95 Prozent der Printmedien sind in Chile in den Händen von zwei Familienunternehmen. Zwei der vier wichtigsten nationalen Fernsehkanäle gehören wiederum den Unternehmensgruppen Luksic und Solari, ein weiterer gehörte bis 2014 dem Präsident Sebastián Piñera. Ähnliches gilt für Radiosender und Sportvereine (Matamala 2015:108, 168 ff).
 
72
Auch große Infrastrukturprojekte oder etwa Fußballteams werden oftmals von Bergbauunternehmen finanziert.
 
73
Sowie sechs weiteren Fernsehkanäle und sechs Radiostationen.
 
74
Auf lokaler Ebene werden hier auch die Beiträge bezüglich Infrastruktur und Dienstleistungen hinzugezählt.
 
75
Neben den allgemeinen Zielen des Verbandes werden auf der offiziellen Homepage (consejominero.cl) zwei große übergeordnete Ziele aufgelistet: die Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung seiner Mitglieder und Nachhaltigkeitsprinzipien im Kontext des Klimawandels.
 
76
Bis dahin existierte nur die Comisión Nacional de Medio Ambiente (CONAMA).
 
77
Im Rahmen meiner Forschung zum chilenischen Bergbau begleitete ich zwischen 2013 und 2015 die staatliche Bestandsaufnahme und Untersuchung der Tailings in Chile seitens des Umweltministeriums.
 
78
Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Region Atacama um die Region mit der zweit stärksten Präsenz von Bergbauunternehmen in Chile handelt.
 
79
Die in den letzten beiden Absätzen dargelegte Vorgehensweise der staatlichen Behörden im Umgang und der Regulierung der Bergbauaktivitäten in Chile zeigt zentrale Elemente dessen, was anhand der empirischen Fallstudien (ab Kapitel 6) als eine toxische Institutionalität im Umgang mit Tailings beschrieben wird.
 
80
In Chile gibt es eine Reihe von „Opferzonen“ (zonas de sacrificio), die als Orte gelten, in denen sich Umwelt- und gesundheitsschädliche Industrien häufen und auf diese Weise mehrere sozial-ökologische Probleme überlappen.
 
81
Dennoch behauptet Donoso, dies würde vor allem im Interesse der Landwirte stehen, da der Bergbausektor in der effizienten Wassernutzung führend sei und sowohl einen Großteil des Wassers im Produktionsprozess wiederverwende als auch gleichzeitig auf alternative Quellen wie etwa Meereswasser zurückgreife.
 
82
Im Fall Pabellón kommen zudem Rückstände der nicht-industriellen Silber- und Goldherstellung Anfang des 20. Jahrhunderts vor.
 
83
Siehe die offizielle Website von Codelco: www.​codelco.​com [08.02.2022].
 
84
Die genaue Zusammensetzung variiert stark je nach Abbauort, Zusammensetzung der Erze -die oftmals schon Schwermetalle enthalten- und der für ihre Trennung jeweils notwendigen Chemikalien.
 
85
Besonders, weil die Bergbauregionen Chiles Wüstengebiete darstellen.
 
86
El Mostrador (2022, 3. Januar): El avance de las montañas tóxicas: cada 30 horas se depositan relaves en Chile equivalentes al cerro Santa Lucía, [online] https://​www.​elmostrador.​cl/​cultura/​2022/​01/​03/​el-avance-de-las-montanas-toxicas-cada-30-horas-se-depositan-relaves-en-chile-equivalentes-al-cerro-santa-lucia/​ [15.06.22].
 
87
Universidad de Chile (2022, 5. Januar): Investigación plantea que en el país cada 30 horas se depositan relaves equivalentes al cerro Santa Lucía, [online] https://​www.​uchile.​cl/​noticias/​183124/​investigacion-u-de-chile-aborda-la-realidad-de-los-relaves-en-el-pais [08.02.22].
 
88
Siehe letzte Fußnote.
 
89
El Mostrador (2022, 3. Januar): El avance de las montañas tóxicas: cada 30 horas se depositan relaves en Chile equivalentes al cerro Santa Lucía, [online] https://​www.​elmostrador.​cl/​cultura/​2022/​01/​03/​el-avance-de-las-montanas-toxicas-cada-30-horas-se-depositan-relaves-en-chile-equivalentes-al-cerro-santa-lucia/​ [15.06.22].
 
90
INDH: Mapa de conflictos Ambientales, [online] https://​mapaconflictos.​indh.​cl [8.2.2022].
 
91
Ausnahmen sind Unfälle wie der Dammbruch des Tailingdammes Las Palmas, die in den Medien als einmalige Unfälle oder katastrophale Ereignisse dargestellt werden.
 
92
Eine Ausnahme ist die NGO relaves.org, die nach dem Dammbruch Las Palmas von einem der Betroffenen gegründet wurde. Sie beschränkt sich allerdings vorwiegend auf den juristischen Bereich des Problems und ist seit Jahren kaum noch aktiv.
 
93
Es handelt sich dabei um den Dokumentarfilm Minas de oro, desechos de muerte von der Journalistin Carola Fuentes.
 
94
OLCA (2015, 23. April): La amenaza de los relaves: Lo que destapó el aluvión, [online] https://​olca.​cl/​articulo/​nota.​php?​id=​2557 [15.06.22]. Siehe auch: Servindi (2015, 3. April): Chile: Alarma de contaminación por escurrimiento de relaves mineros, [online] https://​www.​servindi.​org/​actualidad/​126829 [09.02.22].
 
95
Mitglieder dieser Vereinigung sind Chile, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Cuba, Ekuador, Peru, Spanien, Guatemala, Honduras, México, Nicaragua, Panama, Paraguay, Portugal, Dominikanische Republik, Uruguay und Venezuela.
 
97
Ley Chile (2019, 18. Juli): Ley 20551. Regula el cierre de faenas e instalaciones mineras, [online] https://​www.​bcn.​cl/​leychile/​navegar?​idNorma=​1032158 [07.02.22].
 
98
Experten wie Werner Zimmermann (PW03) oder Cristobal Valenzuela (PW01) stellen im Interview die notwendigen Bedingungen für eine solche Wiederaufarbeitung auf heutigem technologischen Stand dar. Darunter findet sich nicht nur die Konzentration an Metallen, sondern auch die bisherige Schadstoffbelastung der Tailings, die in vielen Fällen der Grund dafür ist, ein solches Projekt nicht zu beginnen. Dennoch prognostizieren beide, dass das Geschäft mit Altlasten zukünftig boomen könnte, da sich Unternehmen auf diese Weise den aufwändigen Abbauprozess sparen könnten, um an den gewünschten Rohstoff zu gelangen. Auch bei den unten untersuchten Tailings kam es zu Versuchen diese wieder aufzuarbeiten, immer verbunden mit dem Versprechen einer gleichzeitigen Restaurierung.
 
99
Schon der Name hat für großes Aufsehen und Empörung, besonders in den betroffenen Regionen, gesorgt.
 
100
Chile Sustentable (2018, 22. August): Campaña «Adopta un Relave» intervendrá 131 depósitos en Atacama, [online] http://​www.​chilesustentable​.​net/​2018/​08/​campana-adopta-un-relave-intervendra-131-depositos-en-atacama/​ [10.02.22].
 
101
Im Gegensatz zu den darauf genannten Sozialwissenschaftlern, ist dies nicht sein Klarname.
 
102
La Tercera (2017, 10. März): Estudio muestra daños en salud de niños expuestos a relaves, [online] https://​www.​latercera.​com/​noticia/​estudio-muestra-danos-salud-ninos-expuestos-relaves/​ [11.02.22].
 
103
El Mercucio (2019, 7. Oktober): Boliden, el caso de contaminación con metales pesados provenientes de Suecia que afectó a Arica, [online] https://​www.​emol.​com/​noticias/​Nacional/​2019/​10/​07/​963465/​Boliden-embajador-sueco-Arica.​html [15.06.22]. Siehe auch: Deutsche Welle (2019, 4. Dezember): Residuos tóxicos suecos envenenan a una comunidad chilena durante 30 años, [online] https://​www.​dw.​com/​es/​residuos-t%C3%B3xicos-suecos-envenenan-a-una-comunidad-chilena-durante-30-a%C3%B1os/​a-51514417 [11.02.22].
 
104
Vgl. die 14 großen internationalen Abkommen, die von Chile ratifiziert wurden: ONU (2022): Tratados ratificados por Chile, [online] https://​observatoriop10.​cepal.​org/​es/​countries/​35/​treaties, [9.5.2022]. Siehe auch Barriga et al. (2022) zu den 29 insgesamt unterzeichneten internationalen Abkommen.
 
105
Dies gilt für den Staat allerdings auch nur beschränkt und für beide Akteure nur für die derzeit aktiven Tailings. Die Mehrheit der Tailings – wie auch die Tailings in Pabellón – sind bisher lediglich aufgelistet worden, ihre Zusammensetzung ist aber unklar und Verantwortliche sind nicht mehr vorhanden.
 
106
Diese Daten wurden in der ersten Phase der Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes vom CENMA gesammelt und aufgrund der damaligen Zusammenarbeit vor der Veröffentlichung mit uns geteilt.
 
107
Es handelt sich hierbei lediglich um eine Kurzdarstellung einiger zentraler Aspekte der drei Fälle. Die hier genannten Merkmale der einzelnen Fälle werden in den jeweiligen Kapitel 6, 7 und 8 dieser Arbeit detailliert beschrieben, dargestellt und nachgewiesen.
 
Metadaten
Titel
Forschungsgegenstand: Der chilenische Bergbau und die schleichende Gewalt seiner Hinterlassenschaften
verfasst von
Anna Landherr
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43288-1_5