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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Das Erbe der Selbstzivilisierung im Himalaya

verfasst von : Stefan Lüder

Erschienen in: Staatsbildung und Legitimation im Himalaya

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

In diesem Buch wurden wichtige Strategien zur Herrschaftslegitimation im überlangen 19. Jahrhundert des Gorkhā-Staates herausgearbeitet. Dabei wurde detailliert dargelegt, auf welch vielschichtige und komplexe Art und Weise die Geschichte des Gorkhā-Staates mit der Geschichte Asiens, Europas und der weiteren Welt verwoben ist. Anhand der exemplarischen Untersuchung der legitimatorischen Diskurse und Praktiken wurde hinreichend belegt und gezeigt, wie sich ändernde lokale, regionale und globale Dynamiken der Staatsbildung zu neuen Formen der Herrschaftslegitimation führen. Es konnte dargelegt werden, wie es den herrschenden Eliten des Gorkhā-Staates im Verlauf des überlangen 19. Jahrhunderts durch die sukzessive Selbstzivilisierung gleichermaßen gelungen war, den internen Machterhalt weitestgehend sicherzustellen und einer potenziell drohenden Fremdbestimmung durch die britische Kolonialmacht zuvorzukommen und dadurch die Souveränität und territoriale Integrität des Gorkhā-Staates zu bewahren. Durch das eigens entwickelte Forschungsdesign wurde in der Praxis demonstriert, wie Global-, Regional- und sogar Nationalgeschichte in der historischen Forschung im Zusammenhang gedacht und auch umgesetzt werden kann, um Tendenzen zu methodologischem Globalismus, Regionalismus und Nationalismus entgegenzuwirken.
Am 5. Januar 1961 erklärte König Mahendra Śāha (r. 1955–1972), fast genau zehn Jahre nach dem Ende der Rāṇā-Herrschaft, das kurze Experiment des demokratischen Parlamentarismus in Nepal für beendet, setze die erste demokratisch gewählte Regierung des Landes wieder ab und verkündete stattdessen den Beginn des Panchayat-Systems. Der neue Machthaber begründete diese Schritte folgendermaßen:
This government, being an elected one, it was only natural that it would have more powers than its predecessors. It received assistance from friendly government in plenty, it had before it the experience of the last eight years as a lesson. In spite of all this, the Ministry constituted after the elections, failed even in maintaining law and order, which is the primary task of every civilized government. It is well known that as a result of the arbitrary steps taken in the name of reorganization and improvement of the administrative system, the administration itself virtually came to a standstill. The difficulties and hardships of the people remained unresolved. The Ministry did not pay any attention to the miserable and poverty-stricken conditions of the people. On the contrary, an atmosphere of uncertainty and instability was created in the country on account of the abuse of power and the lack of a spirit of mutual trust and co-operation even among the ministers. Those at the highest level were found involved in bribery and corruption. Communalism, regionalism and other anti-social and anti-national elements acquired an ascendency in the affairs of the country, as a result of which not only the peace and tranquility of the country was disrupted at the roots but seemed to pose a direct threat to the territorial integrity and sovereignty of the nation.
(Verlautbarung von Mahendra Śāha am 5. Januar 1961)1
Wie schon der Rāṇā-Administration, sei es König Mahendra zufolge auch der neuen demokratisch gewählten Regierung, trotz bester Voraussetzungen, nicht gelungen, den Erwartungen an sie und den normativen Kriterien zivilisierter Regierungen gerecht zu werden. Sie sei nicht nur daran gescheitert, die Probleme der von Armut betroffenen Bevölkerung zu lösen, sondern habe durch ihr unverantwortliches und unmoralisches Handeln zu mehr Misstrauen, Korruption und Instabilität beigetragen. Das habe letzten Endes den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt und darüber hinaus auch die territoriale Integrität und nationale Souveränität Nepals gefährdet. Aufgrund dieser Verfehlungen habe also die durch die Wahl legitimierte, demokratische Regierung ihre Legitimität wieder verloren. Dieser Argumentation folgend blieb Mahendra also schlicht keine andere Wahl, als wieder die Macht im Land zu übernehmen und auf diese Weise zusätzlichen Schaden für Staat und Gesellschaft zu verhindern. In der Rhetorik dieser Begründung der erneuten Machtübernahme der wiedererstarkten Śāha-Dynastie spiegelt sich das Erbe der Selbstzivilisierung des überlangen 19. Jahrhunderts wider und verdeutlicht anschaulich ihre nachhaltigen Auswirkungen auf die Staatsbildungsprozesse im zentralen Himalaya.
In diesem Buch wurden wichtige Strategien zur Herrschaftslegitimation im überlangen 19. Jahrhundert des Gorkhā-Staates herausgearbeitet. Dies ermöglicht ein tiefergehendes Verständnis über die Ursprünge und historischen Kontinuitäten von Mahendras Zivilisierungsdenken. Denn wie die Untersuchung gezeigt hat, eigneten sich die früheren Śāha-Könige während der formativen Phase des Gorkhā Rājya und der Expansion des Gorkhā Rājs zunächst Legitimationsdiskurse und -praktiken lokalen und regionalen Ursprungs an. Anfänglich begannen sie die Dienste von Asketen und Brahmanen in Anspruch zu nehmen und mit deren Hilfe dynastischen vaṃśāvalī anzufertigen. Durch die Konstruktion von genealogischen Beziehungen zu den legendären Dynastien Rājputānās vermochten sie einen eigenen Rājput-Herkunftsmythos zu erfinden, der ihre Herrschaftsansprüche religiös und herkunftsbasiert legitimierte. Dank der Verknüpfung von verschiedenen lokalen und regionalen Identitätskategorien in Form des varṇa-jāt-thara-Nexus und den daraus abgeleiteten multiplen Herrscheridentitäten konnten sie ihre Legitimationsgrundlage auch auf nicht-hinduistisch geprägte soziokulturelle Gruppierungen ausweiten.
Im Verlauf der Expansion gewannen die Aneignung des Hindu-Gottkönigtums und die Bezugnahme auf die benachbarten Regionalmächte als externe Legitimationsquelle an Bedeutung. Die herrschenden Eliten der Gorkhālī begannen ihre eigenen Schutzgottheiten zu identifizieren und fügten den Erzählungen ihrer neuen vaṃśāvalī auch göttliche Ursprungsmythen hinzu. Im Verlauf der Eroberungen der vielen kleinen stark hinduistisch geprägten Kleinkönigtümer übernahmen sie deren Symbole, Feste, Rituale und begannen die Könige der Śāha-Dynastie als Reinkarnation Viṣṇus zu verehren. Und auf dem Höhepunkt der expansiven Phase gab sich die Herrschenden des Gorkhā Rājs nicht mehr nur mit der unautorisierten Aneignung des Dynastienamens Śāha zufrieden, sondern forderte die Anerkennung ihres Machtanspruchs durch offizielle Titulierungen der benachbarten Regionalmächte ein. Die kamen ihrer Funktion als externe Legitimationsquellen zum Teil auch nach und so konnten die Śāha-Könige ihrer praśasti beispielsweise den Pādshāh-Titel bahādurasamserajaṅ und den Titel wáng des Qing-Kaisers hinzufügen.
Vor dem Hintergrund der Verwandlung der Welt, dem Zerbrechen des gesamteurasischen Equilibriums und dem Aufstieg Europas zum globalen Hegemon im Verlauf des 19. Jahrhunderts orientierten sich die an die Macht gelangten Thāpā- und Rāṇā-Familien im Gorkhā-Staat in der konsolidierenden Phase der Staatsbildung zunehmend an den Legitimationsstrategien der Briten in Südasien und begannen erste Maßnahmen zur Selbstzivilisierung zu ergreifen. Sie führten zwar die lokalen und regionalen Legitimationsdiskurse und -praktiken der Śāha-Könige weiter fort, aber diese verloren im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung. In ihren Rollen als mukhtiyāra und Premierminister gelang es weder Bhīmasena Thāpā noch Jaṅga Bahādura Rāṇā die Śāhas vollständig zu entmachten. Stattdessen blieben sie auf die Monarchen angewiesen, die in ihren rituellen und zeremoniellen Funktionen im Machtgefüge des Gorkhā-Staates nun selbst zur Legitimationsquelle der neuen herrschenden Eliten wurden. Im Zuge der britischen Expansion in Südasien und den Opiumkriegen im Qing-Kaiserreich ersetzte der britische Kolonialstaat ab Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessive zunächst den Pādshāh und wenig später auch den Qing-Kaiser als externe Legitimationsquelle für die herrschenden Eliten der Gorkhālī.
Aufgrund dieser sich rasant ändernden Situation begann die Rāṇā-Regierung das Potenzial eines einheitlichen und kodifizierten Rechtssystems zur Herrschaftslegitimation für sich zu nutzen. Mit Hilfe der neuen Gesetzgebung des Ain gelang es der Rāṇā-Administration den eigenen Staatsapparat so zu effektivieren, dass sie durch das Zusammenwirken der Institutionalisierung einer hierarchisierten Gesellschaftsordnung und der Reform soziokultureller Normen und Praktiken die eigene Machtbasis signifikant erweitern, die Staatseinnahmen erhöhen und damit einer potenziellen Fremdbestimmung durch die britische Kolonialmacht entgegenwirken konnten. Durch die Verbindung der Legitimation der Legalität mit den Maßnahmen zur Effektivierung des Staatsapparates konnte die Rāṇā-Regierung den Eindruck vermeiden, es handele sich um eine Willkürherrschaft im Sinne einer „Orientalen Despotie“, weil ihr Vorgehen auf einer formalisierten Gesetzgebung und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beruhte. Die Bezugnahme der hierarchisierten Gesellschaftsordnung auf den varṇa-jāt-thara-Nexus legitimierte den Anspruch der herrschenden Eliten als tāgādhārī allen anderen Teilen der Bevölkerung im Sinne der brahmanischen Orthodoxie zivilisatorisch überlegen zu sein. Und die Aneignung dieses Legitimationsdiskurses vorangegangener Herrscherdynastien bediente zugleich das identitätsstiftende Narrativ und Exzeptionalismus-Argument, die Rāṇās seien die letzten Bewahrer und Beschützer des weltweit einzig verbliebenen „Hindu Königreichs im Kali Zeitalter“, wodurch sie sich nach außen hin kulturell abgrenzen konnten. Zuletzt trug die schrittweise gesetzliche Regulierung und schlussendliche Abschaffung der Witwenverbrennung und Sklaverei maßgeblich zur Außenwahrnehmung bei, die Eliten der Gorkhālī seien selbst dazu imstande, durch moralische Selbstzivilisierung von den Europäern als soziokulturelle Missstände verstandene Normen und Praktiken zu reformieren. Dank ihres vorausschauenden, strategischen Handelns, so der allgemeine Tonus unter den Europäern, war den Śamśera Rāṇās dies gelungen, ohne durch zu radikale Eingriffe in das gesamtgesellschaftliche Gefüge allzu große Widerstände innerhalb der eigenen Eliten zu schüren und dadurch die eigene Herrschaft zu gefährden.
Die Initiativen zur moralischen und materiellen Selbstzivilisierung wurden von den Śamśera Rāṇās zum Ende des 19. Jahrhunderts kontinuierlich weiter intensiviert und erreichten im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ihren Zenit. Die Eliten hatten verstanden, dass der Aufbau eines öffentlichen Gesundheitswesens nicht nur der Versorgung von Kranken und das Bildungssystem nicht ausschließlich der Ausbildung von dringend benötigten Verwaltungs- und Justizbeamten diente. Sie waren sich ebenso darüber im Klaren, dass die Einrichtungen sowie bestimmte Wissens- und Methodenkorpusse von den Europäern als Indikatoren zur Bestimmung des Grades der Zivilisiertheit von Gesellschaften gewertet wurden. In ihrer Rhetorik geschickt auf die Zivilisierungsdiskurse der europäischen Mächte und später auch die Selbstzivilisierungspraktiken Japans zurückgreifend wussten sich die Śamśera Rāṇās durch die zahlreichen neu geschaffenen Institutionen im Land als gutmütige, wohlwollende Herrscher und zivilisatorische Avantgarde im fernen Himalaya zu inszenieren.
In gleicher Weise konnten sie ihre Legitimität durch den Ausbau der Infrastruktur, neue Brücken, Straßen und ein öffentliches Postwesen erhöhen. Und auch anhand von angeeigneten Technologien lässt sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine immer deutliche Orientierung am Vorbild Europas erkennen. Damit wurde von den Eliten des Gorkhā-Staates eine duale Strategie der gleichzeitigen Abgrenzung zur Bevölkerung und Annäherung an den Lebensstil der europäischen Eliten verfolgt. Diese Strategie fand gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ausdruck in der Anverwandlung der Fotografie und neuer Methoden des Straßen und Brückenbaus, im Bau eines Uhrenturms und Wasserkraftwerks, einer Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie einer Seil- und Eisenbahnverbindung. Diese materielle Selbstzivilisierung demonstrierte für alle Menschen im Gorkhā-Staat unübersehbar die dafür notwendige Organisationsmacht, Ingenieurskunst und logistische Leistungsfähigkeit.
Eine Gemeinsamkeit fast aller Maßnahmen zur materiellen wie immateriellen Selbstzivilisierung war der Balanceakt zwischen einer Annäherung des eigenen Zivilisationsmodells an die der europäischen Mächte und der parallelen Abgrenzung zur Konstruktion einer eigenen kulturellen Identität und Staatsräson. Das zeigte sich beispielsweise an der vereinheitlichten Kodifizierung des Rechtssystems. Die Rāṇā-Regierung orientierte sich dabei zwar deutlich am Vorbild Europas, aber weist dennoch eine bemerkenswerte Besonderheit auf. Die im Ain vorgenommene Differenzierung innerhalb der Gesetzgebung auf Grundlage der Identitätskategorien des varṇa-jāt-thara-Nexus in Form einer eigenen Gorkhālī Stufenleiter der Zivilisiertheit. Anders als in Europa regelten die Gesetze im Ain nicht das Verhältnis zwischen Staat und Individuum, sondern ausschließlich zwischen Staat und gesetzlich vorgegebenen gesellschaftlichen Gruppen. Ähnlich stellt sich die Situation hinsichtlich der Witwenverbrennung und Sklaverei dar. Einerseits wollte die Rāṇā-Administration unter Beweis stellen, dass sie mit Mitteln der eigenen Gesetzgebung diese soziokulturellen Missstände reformieren konnte. Andererseits war man sich aber im Klaren, dass Teile der eigenen Elite die Normen und Praktiken als integralen Bestandteil ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Identität verstanden. Daher entschied sich die Rāṇā-Regierung über Jahrzehnte einen argumentativen Spagat aufrechtzuerhalten, bis in den 1920er Jahren eine gesetzliches Verbot unvermeidlich schien, wenn man nicht den Anschluss an die sabhya duniyā, die zivilisierte Welt, verlieren wollte. Dieser Balanceakt ließ sich darüber hinaus auch im Hinblick auf die Schaffung der medizinischen Pidgin-Wissens- und Methodenkanons sowie die parallele Förderung von englischsprachigen Schulen und bhāṣā pāṭhaśālā noch weiter verdeutlichen.
Aufgrund der notwenigen Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen und Moralvorstellungen waren zahlreiche Maßnahmen zur Selbstzivilisierung zu einem gewissen Grad inhärent ambivalent. Zu Beginn war die parallele Abgrenzung zur Bevölkerung und Annäherung an die europäischen Eliten oft erfolgreich und führte sowohl auf vertikaler als auch auf horizontaler Ebene zu einer Erhöhung der Legitimität der Herrschenden. Wie sich aber anhand der Beispiele des Bildungssystems und der Aneignung von Technologien veranschaulichen ließ, konnte sich deren implizite Symbolik und ihre legitimatorische Wirkung auf der vertikalen Ebene umkehren, wenn die damit verbundenen Fortschrittsversprechen gegenüber der Bevölkerung nicht erfüllt worden. Anstatt als Zeichen einer modernen Zivilisation, symbolisierten Schulen, Colleges oder elektrische beleuchtete Palastanlagen die Dekadenz und Entrücktheit der Eliten, die ihre eigene Bevölkerung an den zivilisatorischen Errungenschaften nicht teilhaben ließen, sie vernachlässigten und unterdrückten. Statt die Legitimität zu erhöhen, trugen sie nun zur Delegitimierung des Herrschaftsanspruchs bei.
Zusammenfassend konnten also die zentrale Forschungsfrage nach den angeeigneten Strategien zur Herrschaftslegitimation durch die Eliten des Gorkhā-Staates ausführlich, wenn auch keinesfalls abschließend oder vollständig beantwortet werden. Dabei wurde detailliert dargelegt, auf welch vielschichtige und komplexe Art und Weise die Geschichte des Gorkhā-Staates mit der Geschichte Asiens, Europas und der weiteren Welt verwoben ist. Ebenso wurde anhand der exemplarischen Untersuchung der legitimatorischen Diskurse und Praktiken die erste These hinreichend belegt und gezeigt, wie sich ändernde lokale, regionale und globale Dynamiken der Staatsbildung zu neuen Formen der Herrschaftslegitimation führen. In der formativen Phase des Gorkhā Rājya und eigneten sich die Śāhas anfänglich erst lokale und im Verlauf der Expansion des Gorkhā Rājs schließlich auch immer mehr regionale Legitimationsdiskurse und -praktiken an. Mit zunehmenden globalen Verflechtungen im 19. Jahrhundert wurden für die Thāpā-, die Rāṇā- und schlussendlich die Śamśera Rāṇā-Dynastien in der konsolidierenden Phase des Gorkhā-Staates die selektive Aneignung des europäischen Zivilisierungsdenkens und damit verbundener Legitimationsdiskurse und -praktiken in Form der Selbstzivilisierung zu einer bedeutenden Legitimationsstrategie. Was allerdings nicht in der Formulierung der These antizipiert worden war und erst durch die empirische Untersuchung klar wurde, ist die Orientierung der Śamśera Rāṇās am Beispiel der Selbstzivilisierung Japans infolge eines pan-asiatischen Umdenkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Genauso wurden auch zahlreiche Belege für die zweite zentrale These vorgebracht und gezeigt, dass es den herrschenden Eliten des Gorkhā-Staates im Verlauf des überlangen 19. Jahrhunderts auch durch die sukzessive Selbstzivilisierung gleichermaßen gelungen war, den internen Machterhalt weitestgehend sicherzustellen und einer potenziell drohenden Fremdbestimmung durch die britische Kolonialmacht zuvorzukommen und dadurch die Souveränität und territoriale Integrität des Gorkhā-Staates zu bewahren. Im Zusammenhang der eigenen Thesenbildung ebenfalls nicht berücksichtigt, aber eine durch die Empirie erlangte Erkenntnis ist die potenziell ambivalente Wirkung von Maßnahmen zur Selbstzivilisierung. Die Nichterfüllung implizierter Fortschrittsversprechen kann zu einer Umkehr der Zivilisierungssymbolik auf der vertikalen Ebene führen und damit unbeabsichtigt zur Delegitimierung statt zur Legitimierung eines Herrschaftsanspruchs beitragen. Das Endes der Rāṇā-Herrschaft ist ein äußerst veranschaulichendes Beispiel für dieses Phänomen.
Insgesamt verdeutlichen diese Erkenntnisgewinne, dass die in der Einleitung aufgegriffene These von Sebastian Conrad (2005) untermauert wurde, es sei lohnender davon auszugehen, dass jede Form von Herrschaft auf verschiedene Strategien zur Herrschaftslegitimation zurückgreife und daher nach den spezifisch angeeigneten Diskursen und Praktiken gefragt werden sollte, anstatt sie einfach vorauszusetzen. Daran schließt sich die Frage an, welche Bedeutung die dadurch gewonnenen Erkenntnisse für die Geschichtsschreibung und historische Erforschung des zentralen Himalayas und insbesondere des Gorkhā-Staates beziehungsweise Nepals haben könnten.
Dieses Buch leistet diesbezüglich einen Beitrag zur Aufarbeitung von verschiedenen Forschungsdesideraten. Die hier verfolgte Historisierung der Staatbildungsprozesse, die dafür angewandte Periodisierung in formative, expansive und konsolidierende Phase und terminologische Unterscheidung zwischen Gorkhā Rājya, Gorkhā Rāj und Gorkhā-Staat sowie die dadurch betonte Prozesshaftigkeit wirken Tendenzen zur ahistorischen Darstellung und der Rückprojektion gegenwärtiger politischer Entitäten in die Vergangenheit entgegen. Dieses weniger wertende Vorgehen trägt ebenfalls zur Überwindung der lange zurückreichenden Voreingenommenheit der Historiografie und historischen Forschung gegenüber der Rāṇā-Zeit und der Darstellung von einer „dunklen Episode despotischer Willkürherrschaft“ bei. Durch die Abkehr vom Fokus auf die Hindu-Identität der Herrschenden und des Staates reproduziert dieses Buch nicht länger die damit häufig begründete Darstellung der historische Exzeptionalismus- und Selbstisolationsargumentation. Und die thematische Gliederung, der analytische Ansatz und die Offenheit der zeitlichen Eingrenzung halfen nicht selbst eine deskriptive Ereignischronologie, sondern eine offene Geschichte zu schreiben, die keinerlei Anspruch und Abgeschlossenheit suggeriert. Zugegebenermaßen haben die unternommenen Anstrengung selbstverständlich nicht zur endgültigen Überwindung des nationalstaatlichen Rahmens als „Container“ allen Denkens, Forschens und Schreibens geführt. Aber durch einen transparenten und selbstreflexiven Umgang mit der Problematik und eine adäquate historische Kontextualisierung durch eine prozessbetonende Periodisierung und entsprechende Terminologie wurde versucht, dem eigenen Hang zum methodologischen Nationalismus zu begegnen. Insgesamt ermöglichen die dadurch gewonnenen Erkenntnisse eine Einordnung in übergreifende wissenschaftliche Debatten über regionale und disziplinäre Grenzen hinaus.
Das entwickelte Forschungsdesign hat sich bewährt. Die Untersuchung von Handlungen, Kommunikationsinhalten und deren Wahrnehmung durch die unterschiedliche Akteure in Staatsbildungsprozessen zur Identifikation von Legitimationsstrategien lieferte ein recht vollständiges Bild der Komplexität und Vielschichtigkeit, ohne sich dabei in der Fülle von verfügbaren Quellenmaterialien zu verlieren. Das lässt sich auch für die definierten analytischen Kategorien von Modalität, Temporalität und Zielgruppe attestieren, durch die ein tiefergehendes Verständnis über die Beschaffenheit identifizierter Legitimationsstrategien, über zeitliche Muster wie Kontinuitäten oder Brüche und über die Adressaten gewonnen werden konnte. Dabei hat sich gezeigt, dass Legitimation und Selbstzivilisierung als epistemologische Kategorien operationalisierbar sind, durch die in diesem Fall neue Erkenntnisse über die reziproken Dynamiken von Staatsbildungsprozessen und Formen der Herrschaftslegitimation gewonnen werden konnten. Durch dieses Vorgehen wurden diese globalhistorischen Themenkomplexe anhand der regionalspezifischen Empirie des zentralen Himalayas und exemplarisch an Staatsbildungsdynamiken des Gorkhā-Staates und den Legitimationsstrategien der herrschenden Eliten untersucht. Demzufolge wurde, wie einleitend in der dritten These postuliert, in der Praxis demonstriert wie Global-, Regional- und sogar Nationalgeschichte in der historischen Forschung im Zusammenhang gedacht und auch umgesetzt werden kann, um Tendenzen zu methodologischem Globalismus, Regionalismus und Nationalismus entgegenzuwirken.
Damit ist aber die Erforschung dieses empirischen Beispiels in keiner Weise vollständig oder abgeschlossen. Und aufgrund der notwendigen Eingrenzung der eigenen Forschung ist der verbleibende Elitenfokus und Kathmandu-Zentrismus auch hier nicht von der Hand zu weisen. Eine Möglichkeit, die begonnene Forschung fortzusetzen und die eigenen Desiderate aufzuarbeiten, wäre beispielsweise den zeitliche Rahmen der Untersuchung zu erweitern, um die langfristigen Auswirkungen der Maßnahmen zur Selbstzivilisierung in den Blick nehmen, die in der anfänglichen zitierten Rede von König Mahendra zum Ausdruck kommen. So könnten mögliche Zusammenhänge zwischen der Selbstzivilisierung im überlangen 19. Jahrhundert mit den Entwicklungs- und Modernisierungsdiskursen während der Panchayat-Zeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergründet werden. Eine andere Option bestünde darin, die bereits behandelten Themenkomplexe weiter zu erforschen, da diese aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen nicht erschöpfend behandelt worden sind. Außerdem sind eine ganze Reihe von Themen nicht oder nur am Rande berücksichtigt worden, wie Architektur, Medien, Industrialisierungsprozesse, der Verwaltungsapparat, die Großwildjagd und auch die Philanthropie, die alle zweifellos mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber auch die Aneignung von Zivilisierungsdiskursen durch nicht-staatliche Akteure, wie die oppositionellen Aktivisten in Darjeeling und Benares sind hier nicht berücksichtigt worden. Inwieweit das entwickelte Forschungsdesign, dessen theoretischer und methodologischer Ansatz, auch in der historischen Legitimationsforschung in anderen zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen eingesetzt werden kann, beispielsweise in größeren komparativen Forschungsvorhaben auf regionaler oder globaler Ebene, muss Gegenstand zukünftiger Diskussionen sein und erst erprobt werden.
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Fußnoten
1
His Majesty King Mahendra (1961: 8–9).
 
Metadaten
Titel
Das Erbe der Selbstzivilisierung im Himalaya
verfasst von
Stefan Lüder
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44422-8_8